Eine Kunst des ‚Kleinen Mannes’

„Bekenntnis zur Grafik“. Die Woensampresse

von Andreas Steffens

Andreas Steffens - Foto © Frank Becker
Eine Kunst des ‚Kleinen Mannes’
 
Rede zur Eröffnung der Ausstellung
„Bekenntnis zur Grafik“.
Die Woensampresse
Stadtbibliothek Wuppertal, 16.01.2014

von Andreas Steffens
 
Wir haben Sie geladen zu einer kleinen Zeitreise. Da man die Zukunft besser nicht kennt - was jeder weiß, der einmal den Fehler machte, sich von einer Wahrsagerin aus der Hand lesen zu lassen - , geht es zurück in die Vergangenheit. Wir, das sind Klaus Stiebeling, als Sammler und Leihgeber, die Stadtbibliothek Wuppertal als Veranstalter, und ich als Ausrichter dieser Ausstellung.
Unser gemeinsamer Blick zurück erinnert an ein Stück nicht nur der örtlichen Kunst- und Kulturgeschichte der 30er bis 70er Jahre des beendeten, aber noch lange nicht vergangenen 20. Jahrhunderts: an die Grafiker-Vereinigung der „Woensam-Presse“.
Mit so vielem, was in diesem Tal wirkte, teilt sie das Schicksal des Vergessens. Daran änderten gute vierzig Jahre intensiver Tätigkeit mit mehreren hundert Editionen nichts. Ebenso wenig, daß zu ihren Mitgliedern bekannte, selbst große Namen zählten. Klassische Bildung wußte, daß alles, was entsteht, auch wert sei, zugrunde zu gehen. Aber auch dieser natürliche Gang auch des kulturellen Lebens ist keine hinreichende Erklärung. Ihr Verschwinden aus Öffentlichkeit und Erinnerung lag zum größten Teil an ihr selbst. Genauer: an ihrem Selbstverständnis.
1948 stellte Wilhelm Worringer, zur vorigen Jahrhundertwende Pionier einer auch philosophisch aufmerksamen Kunsthistorie, die es erst mit Hans Belting ein Jahrhundert später zu unangefochtenem akademischem Rang bringen sollte, in einem seiner Vorträge fest: Die Kunst nicht nur für Künstler und Kenner, die Kunst nicht nur für Eingeweihte, die Kunst für das ganze Volk … so lautet der Schlachtruf, der der Abseitigkeit der natur- und volksentfremdeten Atelierkunst nun entgegengeschleudert wird (Worringer, 146).
Genau das war die Parole, als unter der Leitung des Holzschneiders Wilhelm Geißler am 4. August 1934 eine kleine Gruppe rheinisch-westfälischer Künstler zur Gründung der Woensam-Presse als ‚Werkgemeinschaft deutscher Graphiker’ in Köln zusammenkam.
Als ihr Ziel bestimmte man die Herstellung und Verbreitung wertvoller zeitgenössischer Originalgraphik zu erschwinglichen Preisen, als Wandschmuck und Sammelgut. Zum dreißigjährigen Jubiläum wird Geissler noch einmal programmatisch resümieren, wie die Vereinigung es zu erreichen unternahm. So füllt die „Woensampresse“ eine Lücke im Kulturleben unseres Landes aus und hilft bei der Überbrückung jener oft zitierten Kluft zwischen Kunst und Künstlern einerseits und den anzusprechenden Menschen andererseits. Ihr still und unauffällig geleistetes Werk darf als echte Volksbildungsarbeit gewertet werden.
1934 – ein belastetes Jahr, wie alle bis 1945. Das ein halbes Jahr zuvor installierte Regime begann mit Mord und Propaganda, seine Macht zu festigen. Die Mobilisierung zur ‚Volksgemeinschaft’ als ‚Wehrgemeinschaft’ wurde total.
Konnte davon unberührt sein, was in dieser Zeit, in dieser Atmosphäre begonnen wurde? Der Verdacht der ‚Belastung’ ist unvermeidlich. Handelte es sich womöglich um ein Stück praktischer Mobilisierung nazistischer Ästhetik? Immerhin war die Abkehr von ‚volksfremder’ Kunst deren lauteste Parole.
Der sich sofort einstellende Erfolg der Woensam-Presse schürt den Verdacht. Ihre eigene traditionalistische Ästhetik versetzte sie in die Grauzone zwischen epigonalem Klassizismus und nationalsozialistischer Propaganda. Geschäftstüchtiges Mitläufertum verband unverfängliche Motivik für jedermann mit Illustration des ‚völkischen Aufbruchs’. Museen und Kunstvereine im ganzen Reich fanden sich schnell bereit, Wanderausstellungen zu zeigen.
1943 kam die Geschäftsstelle nach Wuppertal, als Geißler an die dortige „Meisterschule für das gestaltende Handwerk“ als Direktor berufen wurde. Kaum eingerichtet, wurde sie am 30. Mai 1943 beim Bombenangriff auf Barmen zerstört. Um einen ‚Freundeskreis’ erweitert, gelang 1947 ein Neuanfang in Wuppertal, wo Geißler inzwischen Dozent an der Werkkunstschule war, und die Vereinigung etablierte sich im neu entstehenden öffentlichen Kunstleben noch einmal mit breiter Beachtung. Ihre zweite große Zeit hatte sie in den 50er und 60er Jahren, als ihr noch einmal bedeutende Namen wie Conrad Felixmüller oder HAP Grieshaber zu Ansehen verhalfen. Auch den Boom populärer Dekorationsgraphik der 70er Jahre erlebte sie noch, um mit diesem ihr eigenes natürliches Ende zu finden. Ihr unverändert an klassischer Handwerklichkeit orientierter Traditionalismus hatte sie aus der Zeit fallen lassen, der sie so lange entsprochen hatte. Der allzu verhaltene moderate Nachkriegsmodernismus, dem sie sich erst langsam geöffnet hatte, war weder für junge Künstler, noch ein neues Publikum mehr attraktiv. Mit der Einrichtung einer Zweigstelle in Essen wohl im Zusammenhang mit Geißlers Ruhestand verlieren die Spuren sich.
Das Urteil über ein derartiges Unternehmen scheint klar. Fünfzig Jahre Erinnerungs- und Belehrungsarbeit haben uns davon überzeugt,
was von jener Zeit und ihren Hervorbringungen zu halten ist. Zu eindeutig sind die Fragwürdigkeiten in diesem Fall. Fragwürdigkeiten allerdings, die ein historisches Bewusstsein umso weniger übersehen darf, je stärker der Impuls sein muß, sich vom Widrigen abzuwenden. Gerade das Fragwürdige in der Geschichte muß aber auch befragt werden, um die aus ihr gewonnenen Orientierungen des Bewusstseins nicht von ihm allein abhängig werden zu lassen.
So scheint die angemessenere Haltung die der Ambivalenz. Sie bewährt sich in dem, was Alexander Kluge mit dem Titel einer kleinen Sammlung historischer Reflexionsminiaturen aufs genaueste bezeichnete, in der „Kunst, Unterschiede zu machen“. Sie zu beherrschen, ist in jeder Lebenslage hilfreich; ganz unentbehrlich für jedes historische Bewusstsein. Es gibt kein historisches Phänomen, das nicht ‚zweideutig’ wäre. Heute Held, morgen Verbrecher. Und umgekehrt. Auf welche Seite einer gerät, darüber entscheidet der Zeitfaktor, die Konstellation der agierenden Kräfte. Schließlich das Urteil des Siegers. Es muß deshalb nicht falsch sein. Wie umgekehrt die uns heute selbstverständliche Wertung nicht erst durch die Niederlage ihrer Gegner richtig wurde. Sie war 1930 schon so wahr, wie 1950, wie heute. Unter der Voraussetzung allerdings, daß sie die Frucht einer immer wieder neu zu bewährenden Differenzierung ist. Ohne sie keine Wahrheit.
Zu ihr gehört auch ein so unbestreitbar unappetitlicher Umstand wie der, daß Arno Breker, der wohl schamloseste aller ästhetischen Nutznießer des Nationalsozialismus, seinen unmittelbaren Zugang zu den Machthabern auch dazu nutzte, Peter Suhrkamp aus dem KZ zu befreien, und so, horribile dictu, indirekt jene von George Steiner so benannte ‚Suhrkampkultur’ der Nachkriegsaufklärung ermöglichte.
In diesem Blick der differenzierenden Ambivalenz wird die Woensam-Presse zu einem aufschlußreichen Phänomen, bedeutsam jenseits privaten Sammlerglücks und archivarischen Eifers. Vor allem gibt sie Einblick in die wirklich populäre Kunst der 30er bis 70er Jahre. Daß diese weitgehend unvereinbar ist mit der heute kanonischen Kunstgeschichte dieser Zeit, versetzt dem ästhetischen Bewusstsein einen heilsamen Schock. Geschichte ist immer mehr und anders, als man aufgrund ihrer Überlieferungen so sicher zu kennen glaubt. Die heute so klaren Trennlinien waren zur Zeit des Geschehens gar nicht eindeutig. So hatte Goebbels durchaus Sympathien für später verfolgte Künstler, und warb zum Teil um sie, womit er nicht durchweg auf Ablehnung stieß. Nicht nur der ewige Kronzeuge der Verführbarkeit Gottfried Benn, auch ein Emil Nolde war anfällig für die Suggestionen des Nazismus. Früh wurde er aus freien Stücken Parteimitglied, und sollte seine Verfemung lange nicht verstehen.
Ihre größte Überraschung ist, daß die Geschichte immer wieder Überraschungen bereithält. An dem, was war, ändert sich nichts mehr; an den Wahrnehmungen, die spätere Zeiten ihm widmen, dagegen umso mehr. Die Unerschöpfbarkeit des Vergangenen durch seine Erforschung ist Lust und Last des Historikers. Nichts wird er jemals vollständig vergegenwärtigen können. Dafür entschädigt ihn die jederzeit gegebene Möglichkeit einer Entdeckung von Übersehenem.
Dem Umstand, daß das nicht nur für das wissenschaftliche, sondern auch das gebildete Interesse gilt, verdankt sich diese Ausstellung. Vor einiger Zeit machte Jordan Boehm, nach dem Krieg Meisterschüler Otto Pankoks an der Düsseldorfer Akademie, Klaus Stiebeling, Buchhändler, Ex Libris- und Grafik-Sammler, auf die ‚Woensam-Presse’ aufmerksam, deren Mitglied er einst war. Nichts ist für einen Sammler aufregender, als Unbekanntes zu entdecken. Das Interesse war schnell geweckt, und er begann nachzuforschen. Nach und nach erwarb er, was sich im Antiquariatshandel und auf Auktionen an Material auftreiben ließ. Es war nicht viel. Aber genug, um sich davon zu überzeugen, an dieses verschollene Unternehmen, das niemand mehr zu kennen schien, erinnern zu sollen.
Aus dem sicheren Blick der Rückschau mutet schon der Auftakt des Unternehmens verwirrend an. In überraschender Gegenläufigkeit zum Zeitgeist des nationalsozialistischen Aufbruchs hatten die ersten Veröffentlichungen keinen völkischen, sondern religiösen Gehalt. Nach dem ersten Druck, der Holzschnitte der sieben Gründungsmitglieder präsentierte, war der zweite ‚Weihnachten’ gewidmet, und auch die folgenden handelten von biblischen Themen wie Carl Barths „Flucht nach Ägypten“, Anny Schröders „Die drei Weisen“, oder Wilhelm Geißlers eigene „Heilige Familie“, bevor mit dem achten als „Lob der Arbeit“ dem Zeitgeist Tribut gezollt wurde. Es folgten Leporellos mit Ex-Libris und Wappen, und zahlreiche unverfängliche Jedermann-Themen wie Familie, Kinder, Natur.
Herkunft und Prägung ihres Gründers wurden in erstaunlicher Kontinuität über vier Jahrzehnte hin maßgebend für die gesamte Ästhetik der Vereinigung. Aus ‚Jugendbewegung’ und ‚Wandervogel’ hervorgegangen, blieb Geißler der prägenden Begegnung mit dem expressionistischen Holzschnitt treu, wie Nolde, Rohlfs, Kirchner oder Masereel ihn entwickelt hatten. Die Atmosphäre des ‚Jungen Rheinland’ kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg tat das ihre. Mit einigen Protagonisten wie dem Maler Carl Barth, der in der zweiten Phase ab 1947 dem Beirat der Vereinigung angehörte, oder dem Literaten Paul Zech, mit dem er befreundet war, bestanden direkte Beziehungen. Zech widmete ihm 1926 sein Gedicht „Hiddensee“ und veröffentlichte 1928 einen ersten Aufsatz über seine Arbeit.
Das entspricht der Eigenart des Expressionismus als einer zugleich literarischen und bildkünstlerischen Bewegung, Viele, die ihr angehörten, waren beides, Literaten und Bildkünstler, nicht nur ‚unsere’ Else Lasker-Schüler, auch Ernst Barlach, Oskar Kokoschka, und viele andere. Gerade diese Verflechtung rechtfertigt es besonders, diese Ausstellung in einer Bibliothek zu zeigen.
Der Holzschnitt blieb in seiner expressionistischen Ästhetik die bevorzugte Technik, neben vereinzelten Linolschnitten, Steindrucken und Lithografien, die nach dem Zweiten Weltkrieg hinzukamen. Noch einen der späten Drucke wird Erich Zimmer in den 70er Jahren der „Begegnung mit Barlach“ widmen, der 1906 den Begriff ‚Expressionismus’ in einer seiner Aufzeichnungen zuerst verwendet hatte (Jansen, Nachwort, S. 271).
Die Namensgebung der Presse nach dem Dürer-Zeitgenossen Anton Woensam von Worms, der den deutschen Holzschnitt in einem erstaunlich umfangreichen Werk zu einer ersten Blüte führte, bezeichnet mit der darin bekundeten Verpflichtung auf ‚altdeutsche’ handwerkliche Perfektion in der Verbindung mit der Bildästhetik der Expressionisten ihr ‚Programm’. Ideologisch ermöglichte diese Mischung die ungewöhnliche Spannbreite zwischen einer propagandistisch ausbeutbaren Deutschtümelei und einer Dekorationskunst kleinbürgerlichen Kunsteifers nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie bot Platz für bürgerliche Salongraphik ebenso, wie für Reminiszenzen an die proletarische Vorkriegsavantgarde.
Lag die religiöse Thematik der ersten Editionen schon halbwegs quer zum verordneten Zeitgeist, so stand die Herkunft der Woensam-Ästhetik aus dem Expressionismus geradezu in Widerspruch zu ihm. Nicht nur geduldet, sondern zum Ursprung des großen Anfangserfolges konnte die expressionistische Geste jedoch werden, weil sie um ihr wesentliches Element der Zeitkritik bereinigt war. Aus dem „ungehorsamen Menschen“, als den Wolfgang Koeppen die Akteure des originären Expressionismus kennzeichnete, wurde ein sich arrangierend gefügiger. Allerdings einer, der, etwas sentimental, auf deutlichem, buchstäblich ‚holzschnittartigem’, Ausdruck seines Selbst- und Lebensgefühls bestand. Ernst Bloch hat das nicht erst aus der Rückschau, sondern als Zeitgenosse deutlich gesehen, als er 1937 schrieb: Die Bewegung war also nicht von ungefähr, ebensowenig hat sie das Ihre bereits getan. Die Nazis haben von ihren Resten Nutzen gehabt, freilich nur von ihren schal gewordenen und halbierten. Von dem Dunkel ohne Dämmerung, vom Archaischen ohne Utopie, vom schwindelhaften oder verworrenen Schrei ohne menschlichen Inhalt (Bloch, Erbschaft, 261).
Die Woensam-Leute betrieben eine Kunst des ‚Kleinen Mannes’. Bewußt und absichtsvoll. Anders als eine Vereinigung reiner Künstlerkunst wie „Die Schaffenden“, entschieden sie sich im Streit zwischen Publikumskunst und Künstlerkunst, Laienkunst und Kennerkunst, wie Worringer ihn polarisierte, für die Pulikumskunst. Ihr großer Erfolg, wie ihn kein Unternehmen der Hochkultur hatte, war folgerichtig. Sein Geheimnis lag in einer erstaunlichen Mischung aus ‚völkischer’ Motivik und expressionistischer Technik, die von einem klassizistisch geschulten Publikum ebenso goutiert werden konnte, wie als Medium einer ästhetischen Mobilisierung der ‚Volksgemeinschaft’ benutzbar war. Sie überdeckte die Unvereinbarkeit eines Veteranen der ersten Avantgarde der Münchener Sezession wie Max Unold, eines ehrgeizigen Mitläufers wie Walter Wohlfeld - dessen Druck „Sturmmann“ die wohl einzige eindeutige Referenz an den Ungeist der Zeit war - , und behutsam tastender Modernisten wie Carl Barth in Haan oder Willi Deutzmann in Solingen.
Willi Dirx, den Wuppertaler Holzschneider, nicht zu vergessen. Auch er ein Verschollener dieses Tales, schon vergessen zu Lebzeiten. Von ihm erhielt sich kein Blatt, weshalb ihn in der Ausstellung nur einige Buchillustrationen repräsentieren. Aber das ist höchst angemessen, gehörte er doch zum Kreis der bedeutenden deutschen Buchkünstler. Mit seinen Illustrationen zu Dostojewski und Tolstoi ist er in der mehrere tausend Titel umfassenden Sammlung vertreten, die Heinz Frowein, Jurist, Kommunalpolitiker, Förderer des Von-der-Heydt-Museums, Oberbürgermeister, seit seinen Studententagen zusammentrug, eine der bedeutendsten ihrer Art, die es wohl je gegeben hat. Auch sie gehört zu den Verlusten der örtlichen Kulturgeschichte. 2003 wurde sie vom Kölner Auktionshaus Venator und Hanstein in alle Sammlerwinde zerstreut.
 Mit der Woensam-Presse entstand eine Art verhaltener Expressionismus für alle, mit Themen aus jedermanns Leben: Landschaften, Jahreszeiten, Kinder und Familie, Feiertage, religiöses Brauchtum, auch dem einen oder anderen Akt mit einem Hauch von Erotik.
Dieser ‚Volksexpressionismus’, ließ sich in den Aufbruch in die verpaßte Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg hinüberretten. Die Zeit nach 1947 ist geprägt von dem Versuch, sich dem gewandelten Zeitgeist und seiner ‚gegenstandslosen’ Ausrichtung anzupassen, ohne das bewährte Programm aufzugeben. Nun entstanden auch Arbeiten einer verhaltenen Modernität. Wie verhalten dieser Schritt in eine verspätete deutsche Moderne war, wird daran besonders deutlich, daß Irmgard Zumloh, die als junge Frau zu den Gründungsmitgliedern der Woensam-Presse gehört hatte, und nun eines der originellen Werke einer nachgeholten Moderne schaffen sollte, wohl keinen Beitrag mehr lieferte.
Der Anschluß an den Boom einer neuen Dekorationsgrafik der 70er Jahre, der mit der Abwanderung nach Essen zusammenfällt, läßt

Konrad Felixmüller, Der Kuß - Foto © Frank Becker
die Woensam-Presse ein natürliches Ende finden. Aber auch dabei bleibt die Tradition noch gewahrt. Eine der letzten Veröffentlichungen sollte 1977 Conrad Felixmüllers „Kuß“ sein.
Die Selbstdarstellung des kurz nach der Währungsreform 1949 herausgegebenen Informationsblattes zeigt eine bruchlose Kontinuität, als hätte es den historischen Kulturbruch des Nationalsozialismus nicht gegeben – und für diejenigen, die so dachten und arbeiteten, hat es ihn wohl tatsächlich ebenso wenig gegeben wie für ihr Publikum.
Genau deshalb ist die Erinnerung daran bedeutend. Die ebenso erstaunlichen wie verwirrenden Mischungen des Unverträglichen, die der Woensam-Presse ihr Gepräge geben, entsprechen nicht dem Bild der Zeit, das die Historie einer offiziösen Erinnerungskultur festlegte. Eben diese Spannung macht die Geschichte dieser Vereinigung als ein Dokument deutscher Kulturmentalität aufschlußreich. Ihre Künstler und ihr Publikum gehören derselben Zeit an wie die unser Bild von ihr beherrschenden avantgardistischen Figuren eines Rolf Jährling oder Heinz Rasch für die Wuppertaler Nachkriegskultur. Und hatten doch nichts miteinander gemein.
Die klaren Maßstäbe der Historie entsprechen nicht den tatsächlichen Uneindeutigkeiten der Geschichte. Mischungen, Überschneidungen, Paradoxa bestimmen diese, nicht die Ordnung des historischen Bewußtseins, das ihre Phänomene rückblickend sortiert. Die lineare Zeitvorstellung, nach der alles aufeinander folgt, die Zeiten einander ablösen, ist eine ebenso unvermeidliche wie verzerrende Grundlage jeder historischen Erzählung. Man kann nebeneinander leben, sogar daßelbe im gleichen Metier tun, und doch verschiedenen Zeiten angehören. Wie geologische Schichtungen lagern diese sich neben- und übereinander an; fügen sich zu einer komplexen, nie feststehenden Struktur in Bewegung. Reinhart Koselleck, Historiker und wichtiger Theoretiker der Geschichtsschreibung, hat dafür den Begriff der „Zeitschichten“ geprägt.
Sie zu durchschauen, bedarf es einer Kulturästhetik, einer Wahrnehmung der künstlerischen Lebensäußerungen jenseits der Form- und Stilverläufe, der anekdotischen Künstlerviten. Ihr wichtigstes Handwerkszeug ist jene „Kunst, Unterschiede zu machen“. Das Gleichzeitige ist nicht das Gleiche; das Gleiche tritt in verschiedenen Zeiten auf.
In dieser Hinsicht reflektieren die Miss-Verhältnisse der Woensam-Presse in ihren Ambivalenzen und Überraschungen den Verlauf des geschichtlichen Prozesses genau. In ihrer Geschichte wird die Geschichte als Kontinuum einer Gemeinschaft des Unverträglichen sichtbar.
Wenn es auch sonst nichts mehr wäre, dieser Umstand macht sie erinnernswert. Sie bestätigt das Urteil Ernst Blochs, mit dem Wolfgang Koeppen seinen Rückblick auf den „ungehorsamen Menschen“ beschloß: Das Erbe des Expressionismus ist noch nicht zu Ende, denn es wurde noch gar nicht damit angefangen.
 
Zu sehen in der Stadtbibliothek Wuppertal bis 17. Februar 2014 während der Öffnungszeiten.

 
Literatur
 
bekenntnis zur grafik, Weg und Wirken einer Werkgemeinschaft, 117. Druck der Woensampresse, Wuppertal 1958
Bibliothek Dr. Heinz Frowein. Ein Jahrhundert deutscher Buchkunst, Venator & Hanstein, Katalog Auktion 90, Köln 2003
Bloch, Ernst, Erbschaft dieser Zeit (1935), Gesamtausgabe Bd. 4, Ffm 1962
das dreißigste jahr der woensampresse, werkgemeinschaft deutscher grafiker, Essen – Wuppertal 1964
Die rheinischen Expressionisten. August Macke und seine Malerfreunde, hg. vom Städtischen Kunstmuseum Bonn, Recklinghausen 1979
Dirx, Willi, Sechs Holz- und Linolschnitte, in: Arthur Hafink, Hergebrachtes. Aphorismen, Lahnstein o.J.
Geißler, Wilhelm, Holzschnitte. Ein Werkbuch, hg. von Kurt Kauenhoven, 125. Druck der Woensam-Presse, Wuppertal 1960
Geißler, Wilhelm, Umwelt. Holzschnitte, 159. Druck der Woensampresse, Essen 1965
Jansen, Elmar, Nachwort zu: Ernst Barlach, Der gestohlene Mond. Roman, Ffm 1987
Klepper, Jochen, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942, Stuttgart 1956
Kluge, Alexander, Die Kunst, Unterschiede zu machen, Ffm 2003
Koeppen, Wolfgang, Deutsche Expressionisten oder Der ungehorsame Mensch, in: ders., Die elenden Skribenten. Aufsätze, hg. von Marcel Reich-Ranicki (1981), Ffm 1984, 190-202
Koselleck, Reinhart, Zeitschichten. Studien zur Historik, Ffm 2003
Kruse, Joseph A., Kortländer, Bernd, Hg., Die Brüder Emil und Carl Barth. Texte und Bilder, Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Institutes Düsseldorf, Düsseldorf 2000
Langgässer, Elisabeth, … soviel berauschende Vergänglichkeit. Briefe 1926-1950, Hamburg 1954
Meng, Wolfgang, Willi Deutzmann 1897-1958. Gemälde, Graphik, Schriften des Deutschen Klingenmuseums 8, Solingen 1987
Schorer, Georg, Deutsche Kunstbetrachtung, Bayreuther Bücher für Erziehung und Unterricht, hg. von der Reichsverwaltung des NSLB, München-Dortmund-Breslau o.J. (1940)
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Spannuth, Ernst, Der deutsche expressionistische Holzschnitt, in: bekenntnis zur grafik, Weg und Wirken einer Werkgemeinschaft, 117. Druck der Woensampresse, Wuppertal 1958, S. 14
Worringer, Wilhelm, Problematik der Gegenwartskunst (1948), in: ders., Fragen und Gegenfragen. Schriften zum Kunstproblem, München 1956, 138-154
Wulf, Joseph, Die Bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Reinbek 1966
Zech, Paul, Begegnung mit Willy Geissler (1928), in: Geißler, Wilhelm, Holzschnitte. Ein Werkbuch, hg. von Kurt Kauenhoven, 125. Druck der Woensam-Presse, Wuppertal 1960, S. 28-29
Zuschlag, Christoph, Irmgart Wessel-Zumloh (1907-1980). Malerei jenseits der Stile. Monographie und Werkübersicht, Köln 1999
 
 
Nur zum privaten Gebrauch - © Dr. phil. habil. Andreas Steffens