Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Stehende Autos sind nicht dynamisch


1. Dezember: Im Café: Clemens vergaß im Café seinen Hut. Clemens vergaß im Café seinen Hut und seinen Mantel. Clemens vergaß im Café seinen Hut, seinen Mantel und seine Handschuhe. Clemens vergaß im Café seinen Hut, seinen Mantel, seine Handschuhe und seinen Regenschirm. Clemens vergaß im Café seine Hut, seinen Mantel, seine Handschuhe, seinen Regenschirm und seine Reisetasche. Clemens vergaß im Café, seinen Hut, seinen Mantel, seine Handschuhe, seinen Regenschirm, seine Reisetasche und seine Frau. Clemens vergaß im Café, seinen Hut, seinen Mantel, seine Handschuhe, seinen Regenschirm, seine Reisetasche, seine Frau und seinen Autoschlüssel. Clemens vergaß im Café, seinen Hut, seinen Mantel, seine Handschuhe, seinen Regenschirm, seine Reisetasche, seine Frau, seinen Autoschlüssel und seinen Revolver. Clemens hat Demenz.    
 
3. Dezember: Auf Dem Parkplatz: Der Mann fotografierte auf dem Parkplatz sein Auto. Später mußte sich seine Frau vor den Wagen stellen, um es besser zur Geltung zu bringen. Die Autofotografie litt schon immer unter der Tatsache, daß stehende Autos nicht dynamisch wirken. Die Automobilhersteller waren heilfroh, als der Tonfilm aufkam.
 
5. Dezember: Herr Willschneider war ungehalten. „Ungern teile ich meine Lieblingszitate, sie deuten auf meine Schwächen hin“, sagte er, aber die Regeln verlangten es so. „Nicht anders denke ich mir das geheime Leben der Vögel unter der Zwingherrschaft der menschlichen Moderne. Die Menschen und die Tiere, die mir etwas bedeuten, sind solche, die gezwungen sind, ihr Leben gewissermaßen im Untergrund zu führen.“ zitierte er verärgert. Er las dies von Jonathan Franzen in der literarischen Welt vom 9.11.2013. Das andere Zitat war ihm noch peinlicher, aber er brachte es ohne rot zu werden über die Lippen. „Freundlichkeit ist eine Haltung, sie ist erlernbar. Freundlichkeit ist zuverlässiger als Liebe.“ Es stammte von Christian Semler aus dem Jahre 2006, an Tagen, wo sich Herr Willschneider mit allerlei Liebeskummer herumzuschlagen hatte. Herr Willschneider schaute sich um. Endlich war er im Kreis der Lichtsucher aufgenommen worden.


 
© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker