Die Realität des Irrealen

„Man Ray und die Fotografie des Surrealismus“ im Max Ernst Museum Brühl

von Rainer K. Wick

Man Ray, Rayographie 1924
Die Realität des Irrealen
 
„Man Ray und die Fotografie des Surrealismus“
im Max Ernst Museum Brühl
 
 
Brühl, gelegen an der Eisenbahnlinie zwischen Köln und Bonn, die seit Mitte des 19. Jh. den östlichen Teil des barocken Schloßparks durchschneidet, lohnt nicht nur wegen des repräsentativen Schlosses Augustusburg mit seinem von Balthasar Neumann gestalteten Treppenhaus jederzeit einen Besuch., sondern auch wegen des vor acht Jahren eröffneten, in unmittelbarer Nähe von Schloß und Bahnhof gelegenen Max Ernst Museums. Es ist das erste und einzige Museum, das dem umfangreichen Œuvre des 1891 in Brühl geborenen Max Ernst gewidmet ist. Die ständige Sammlung dokumentiert die künstlerische Entwicklung dieses bedeutenden Repräsentanten der Moderne von den Anfängen im Kontext des Rheinischen Expressionismus über den Kölner Dadaismus zu Beginn der 1920er Jahre und die Entfaltung des Pariser Surrealismus bis hin zu seinem facettenreichen Spätwerk. Neben dieser Dauerausstellung, die freilich nicht statisch und monolithisch auftritt, sondern ständig modifiziert und dynamisch angepaßt wird, zeigt das Max Ernst Museum regelmäßig hochkarätige Sonderausstellungen, die sich durch Bezüge zum Surrealismus im Allgemeinen und zu Max Ernst im Besonderen auszeichnen. Dies gilt auch für die schon seit September laufende, großartige Ausstellung „Man Ray. Fotograf im Paris der Surrealisten“.
 
Sie versammelt 160 fotografische Abzüge dieses amerikanischen Ausnahmekünstlers, der eigentlich Emmanuel Rudnitzky hieß, 1890 in Philadelphia als Sohn osteuropäischer Migranten geboren wurde und sich ab 1912 Man Ray nannte. Ohne sein Kunststudium

Man Ray, Noire et blanche, 1926
abgeschlossen zu haben, begann er eine – zunächst mäßig erfolgreiche – Karriere als Zeichner, Maler und Bildhauer. 1915 kam er in New York mit dem aus Frankreich zugereisten Dadaisten Marcel Duchamp in Kontakt; gemeinsam begründeten sie „New York Dada“. 1921 traf er in Paris ein, dem unangefochtenen Kunstzentrum der Zwischenkriegszeit. Schon 1915 hatte er sich seine erste Kamera gekauft, um seine eigenen Arbeiten zu dokumentieren, und um sich der Porträtfotografie zu widmen. Im Paris der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde er zu einem der innovativsten Repräsentanten einer Fotografie, die nicht nur die Grenzen der herkömmlichen Berufsfotografie sprengte, sondern auch abseits der zeittypischen progressiven Strömungen des „Neuen Sehens“ und der „Neuen Sachlichkeit“ zu neuartigen fotografischen Formulierungen gelangte, die im engsten Zusammenhang mit dem gerade aufblühenden Surrealismus standen. Anknüpfend an die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds hatte André Breton, die intellektuelle Schaltzentrale der Bewegung, 1924 das erste surrealistische Manifest veröffentlicht, in dem er den Surrealismus als „reinen, psychischen Automatismus […] ohne jede Vernunftkontrolle“ definierte und dem Glauben an „die Allgewalt des Traums, […] das absichtsfreie Spiel des Gedankens […] außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen“ Ausdruck verlieh. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß Breton das von ihm propagierte sog. automatische Schreiben als „Fotografie des Denkens“ qualifizierte und damit eine höchst bezeichnende Verknüpfung zwischen den Vorgängen des Unbewußten und den Automatismen des fotografischen Apparates bzw. den Prozeßabläufen in der Dunkelkammer herstellte.
Neben herausragenden Porträtaufnahmen der damaligen Pariser Künstler- und Intellektuellenelite schuf Man Ray, der schnell den Kontakt zum Kreis der Surrealisten gefunden hatte, ganz ungewöhnliche fotografische Bilder, die das gesamte Arsenal surrealistischer Strategien der Ablösung vom Realen bzw. der Verfremdung des Faktischen erkennen lassen. Dabei spielten Zufälle bzw. „Betriebsunfälle“ in der Dunkelkammer und deren kreative Nutzung durch den Künstler eine maßgebliche Rolle, so die beiläufige Entdeckung der kameralosen Fotografie, sprich, des Fotogramms mit seinen „lichtreichen Schatten“, wie Floris Neusüss es treffend formuliert hat. Im Unterschied zu den ungefähr zeitgleich entstandenen Fotogrammen des ungarischen Bauhaus-Künstlers László Moholy-Nagy, die stark von dessen konstruktivistischer Gestaltungsauffassung geprägt sind, sind die von Man Ray selbstbewußt als „Rayografien“ (= Zeichnungen mit [Licht-]Strahlen) bezeichneten Fotogramme, die offenbar ohne Kenntnis der fotogeschichtlich ganz frühen Fotogramme von Fox Talbot entstanden, formal oft freier und zeugen von dem Willen des Künstlers, alltägliche Phänomene in die rätselhafte Sphäre des Über-Wirklichen zu transformieren.
Dies gilt auch für die seit Mitte der 1920er Jahre praktizierten Solarisationen bzw. Pseudosolarisationen – die auf Effekten beruhen, auf die der Künstler zufällig dadurch gestoßen sein soll, als in der Dunkelkammer während des Entwicklungsprozesses irrtümlich das Licht eingeschaltet wurde, wodurch partielle Positiv-Negativ-Umkehrungen von magischer Bildwirkung zustande kamen. Man Ray hat diese Zufallsentdeckung systematisch ausgelotet und dem Methodenschatz surrealistischer Fotografie zugeführt (z.B. „Primat de la matière sur la pensée“, um 1930). Der Eindruck des Surrealen ist hier vor allem das Ergebnis der Gleichzeitigkeit zweier Zustandsformen – positiv und negativ – die „normalerweise“ nicht simultan erfahrbar sind, wie auch der Entstehung unerwarteter und unkalkulierbarer grafischer Bildwirkungen durch lineare Formbegrenzungen.
 

Man Ray, Primat de la matière sur la pensée, um 1930

Logisch Unvereinbares miteinander in Beziehung zu bringen und surreale Situationen jenseits der alltäglichen Normalität aufscheinen zu lassen, gelang Man Ray auch durch spezifische Manipulationen, die bewußte „Verletzungen des Mediums“ und ein „gewisses Maß an Verachtung gegenüber den Arbeitsmaterialien […] unerläßlich“ erscheinen ließen, wie Man Ray einmal ausdrücklich betont hat. Zur Ikone wurde der in Brühl im Goldrahmen präsentierte Rückenakt der unter dem Namen Kiki de Montparnasse bekannt gewordenen Geliebten des Künstlers unter dem anspielungsreichen Titel „Le Violon d’Ingres“ von 1924. Die beiden charakteristischen Schallöcher des Streichinstruments entstanden dadurch, daß diese Formen mit Hilfe von Schablonen nachbelichtet wurden. Weitere typische Strategien surrealistischer Fotografie waren die Mehrfachbelichtung, das Close-up, also die radikale Nahsicht („Lippen an Lippen“, um 1930; „Les Larmes“, 1932) und die Inszenierung des Gegensätzlichen („Noire et Blanche“, 1926) bzw. des Inkompatiblen. Letzteres gilt in besonderem Maße für eines der berühmtesten Fotos von Man Ray, nämlich für „Érotique-voilée“ („erotisch-verhüllt“) von 1933/34: Eine nackte junge Frau – es handelt sich um die surrealistische Künstlerin Meret Oppenheim – lehnt sich an das Schwungrad einer großen Tiefdruckpresse und scheint selbst zum „Druckstock“ geworden zu sein, sind doch ihr linker Unterarm und ihre Hand komplett mit Druckerschwärze eingefärbt, also mit Farbe „verhüllt“. Die keineswegs einstimmigen Interpretationen dieses eindrucksvollen Bildes heben den Aspekt einer selbstbewußten, auch sexuell emanzipierten Künstlerin hervor, andere betonen gerade wegen der Druckerschwärze den Aspekt der „männlichen Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper“ (Katalog, S. 53).


Man Ray, Les larmes, 1932

Die Aktfotografie spielt im Œuvre von Man Ray eine prominente Rolle. Ihr trägt die Brühler Ausstellung mit einer Reihe herausragender Arbeiten Rechnung. Hervorzuheben sind ferner die zahlreichen einprägsamen Porträtfotos, insbesondere jene Künstlerporträts von Giacometti, Breton, Picasso, Braque, Miro, Dali und, in größerer Zahl, von Max Ernst, mit dem Man Ray eng befreundet war – Bilder, die in einem Museum, das diesem aus Brühl stammenden Künstler gewidmet ist, von ganz besonderem Interesse sind. Die verschiedenen verfremdenden Eingriffe, die Man Ray an einigen der Porträts vorgenommen hat, bestätigen, was er einmal im Hinblick auf seine eigene Fotografenexistenz wie folgt auf den Punkt gebracht hat: „Ich bin kein Fotograf der Natur, sondern meiner Phantasie.“
 


Man Ray, Le violon d'ingres, 1924

Man Ray. Fotograf im Paris der Surrealisten
bis 8.12.2013
Max Ernst Museum
Comesstraße 42/Max-Ernst-Alle
50321 Brühl
 
Der opulent bebilderte Katalog mit Beiträgen von Patrick Blümel, Herbert Molderings, Jürgen Pech, Achim Sommer und Jürgen Wilhelm kostet an der Museumskasse 29,90 EURO.
 
Heute, 28. November 2013 um 20 Uhr, hält Renate Gruber, die Frau des verstorbenen Gründers der Kölner „photokina“, im Max Ernst Museum einen Vortrag „Die Rays und die Grubers. Ein kleines Erinnerungsbild an 20 Jahre Freundschaft“.
 
Fotos: Max Ernst Museum Brühl und Rainer K. Wick
 
Weitere Informationen:  www.maxernstmuseum.lvr.de