Über die Liebe

Aus dem Warmduscher-Report

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Über die Liebe
 
Sie rannte sofort nach seinem Anruf los und kam davon so außer Atem, daß sie eine Zeit lang Luft schnappen mußte, bevor sie hinter der Litfaßsäule hervortrat und sich ihm gegenüberstellte wie eine Dampfmaschine. Er umarmte sie zur Begrüßung wie ein Krake, als wollte er beweisen, wie stark er war, obwohl er kein Fleisch aß. „Lassen Sie mich los“, lachte sie, „ich bin doch keine Blend-a-med.“„Wieso denn Blend-a-med?“ fragte er und wußte gleich die Anwort selbst: Weil sie vom Drücken rote Streifen im Gesicht bekommen hatte. „Hat Blend-a-med nicht grüne Streifen?“, fragte er und ärgerte sich sofort darüber; Frauen schüchtert Klugheit so schnell ein. „Sie zittern ja“, sagte er schnell zu ihr. „Ich zittere immer, wenn ich glücklich bin“, sagte sie und hoffte, er würde ihr nicht seine häßliche Jacke überhängen; dafür hatte sie sich nicht schön gemacht. Du, du, du, du. Augen zu, Augen zu!
Er hatte sich beim Schönmachen extra für eine Boss-Unterhose entschieden und gegen seine Feinripp-Lieblingsunterhose. Sie brauchte noch nicht zu wissen, wie er wirklich war. Es konnte aber nicht verkehrt sein, wenigstens beim ersten Treffen so schön zu sein, wie es gerade angesagt war. Sie konnte ruhig ahnen, daß er sich nur für sie verstellte und in Wirklichkeit mehr auf seine inneren Werte Wert legte, wie man eine gewisse Trägheit auch umschreiben kann.
Sie dachte beim Duschen so oft an ihn, daß sie nicht mehr wußte, ob sie sich schon die Ohren gewaschen hatte, da wusch sie sie lieber nochmal. Natürlich fielen ihm dann vor allem ihre roten Ohren auf, und er hoffte, bei dem Spiel: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot“ nicht zu sehr auf ihre Ohren zu starren und stattdessen wie gewünscht „Deine Lippen“ hervor zu bringen. Deine Lippen Lippen, deine Lippen Lippen.
 
Augen zu, Augen zu,
ich bin ich und du bist du?
Denk dich so, als wärst du ich
und wir sterben königlich,
fest umklammert, Kinderbibel,
eins geworden, kompatibel,
bist du ich und ich bin du,
Augen zu, Augen zu.
 
Er beschloß, mit ihr nicht über Fußball zu reden, hoffte aber insgeheim, daß sie davon anfing. Vielleicht brachte sie ja Glück und war das Maskottchen vom TUS Neuhaus. Alle seine Freundinnen hatten sich bisher beklagt, daß er so fußballvernarrt sei, dabei trug er seinen Arminia Bielefeld-Schlafanzug nur, wenn diese verloren hatten, O.K., also quasi immer. Er erzählte ihr von der Treue, und daß auch Uwe Seeler Zeit seines Lebens dem HSV verbunden blieb. Mist, jetzt hatte er doch wieder vom Fußball erzählt. Er erzählte ihr, wie wichtig Kinder sind, und daß ihm die Nachwuchsförderung mehr am Herzen liegen würde als dem DFB. Mist, jetzt hatte er doch wieder vom Fußball erzählt. Er überlegte, welches Thema er anschneiden konnte, das mit Fußball überhaupt nichts zu tun hatte, ach  Die deutsche Nationalmannschaft. „Können Sie nicht mal etwas Vernünftiges sagen?“, fragte sie. „Ja“, sagte er, „ich finde, daß Nasebohren ohne Fingernägel nicht richtig zur Sache kommt. Es kommt nichts dabei heraus. Klavierspieler haben keine Fingernägel, um beim Klavierspielen ein Mitklappern zu vermeiden. Ich hörte nun, daß Klavierspieler ihre Notenumblätterer dazu nötigen, ihnen beim Popeln zur Hand zu gehen. Die armen Notenumblätterer, die zum Notenumblättern berufsbedingt lange Fingernägel brauchen, werden also gezwungen, sich in dieser Weise in der Öffentlichkeit zu erniedrigen. Welches auch einer der Gründe ist, daß die Notenblätterer unter starken Nachwuchsproblemen leiden.“ „Wie der DFB?“, fragte sie. „Genau!“, sagte er und lächelte. Der Abend war gelaufen. Augen zu und durch. Sie hatte Angst, ihn beim Küssen zu verfehlen. Er drehte sich manchmal abrupt zum Fernseher hin und schaute sich dort beim Lieben zu. Er hatte mal eine Frau geküßt und dabei ihre Zähne gezählt, allerdings war das für einen Wettbewerb gewesen. Sie hoffte, daß man sich noch so küßte, wie man sich früher geküßt hatte, sie hatte sich schon so lange nicht mehr richtig geküßt. Sie hatte mal vom Küssen Nasenbluten bekommen, aber auch nur, weil sie danach gegen eine Wand gelaufen war. „Entschuldigen Sie, wenn ich mich so ungeschickt anstelle“, flüsterte sie, „ich habe mich seit Monaten nur mit Kindern unterhalten, ich weiß gar nicht mehr, wie man sich so gibt.“ „Es kann sein, daß ich mich stark verändere, wenn wir uns küssen“, warnte er. „Werden Sie dann endlich ein Prinz?“, fragte sie und hoffte, er würde ihr danach das „Du“ anbieten.
 
Er trug auf dem Tablett ein Tablett, als wäre das obere Tablett besonders wertvoll und das untere Tablett ein Tabletttablett. „Sie hatte sich von mir ein Tablett gewünscht, da wollte ich es besonders präsentieren und legte es auf das Tabletttablett. Erst später hörte ich, daß sie sich kein Tablett von mir gewünscht hatte, sondern eine Tablette, die mir helfen sollte, besser zuzuhören. Später schenkte sie mir oder dem, was von mir noch übrig blieb, auf diesem Tablett meinen Kopf.“
 
Mißverständnisse, Mißverständnisse! „Ich dachte doch, die Frau aus dem Bus winkt mir zu, dabei wischte sie nur das beschlagene Fenster frei, Ich dachte doch, sie streckt ihren Fuß nach mir aus und lockt mich damit herüber, dabei machte sie nur eine Dehnübung in der Sonne und ließ dabei ihren Fußnagellack trocknen. Ich dachte doch, sie hätte mir einen Liebesbrief geschrieben und ihn im Mißtrauen auf die Fähigkeiten der Post selbst hinter den Scheibenwischer meines Autos geklemmt, und dann war es doch nur ein Strafmandat von einer Politesse, die es mir mal richtig besorgen wollte. „Mißverständnisse, Mißverständnisse! „Ich dachte doch, sie wollte mit mir tanzen, dabei suchte sie nur ein Leichtgewicht, an dem sie ihren neu erlernten Judogriff ausprobieren konnte. Ich dachte doch, sie hätte das Tempotaschentuch absichtlich fallen lassen, damit ich mich als Kavalier der alten Schule bücke und es ihr hinterher bringe, und dabei war sie auf Inlinern, und ich noch vom Bücken wie ein Klettergerüst erstarrt. Ich dachte doch, sie schaute mich die ganze Zeit über an, dabei schlief sie nur hinter ihrer entspiegelten Sonnenbrille und bewegte dabei nicht den Kopf, obwohl sie gerade von ihrer Enthauptung träumte. Ich dachte doch, sie sei eine Finnin aus der Bekleidungsindustrie, dabei hatte sie nur eine Gänsehaut und fror wie ein Schneider.“ Mißverständnisse, Mißverständnisse!
 
 
 
© Erwin Grosche
Aus: Warmduscher-Report
Redaktion: Frank Becker