Die Kastanie

von Victor Auburtin

Die Kastanie
 
Ich ging im Park spazieren an dem hohen Gitter entlang, das den Garten von der Straße trennt. Am einsamen Herbstmorgen.
Die Kastanien waren reif, und vor mir auf dem Kieswege lag eine dieser blanken braunen Früchte, mit denen die Kinder so gern spielen. Ein kleines Mädchen aber stand draußen außerhalb des Parkes, drückte das Gesicht an die Stäbe des Gitters und sah sehnsüchtig nach der schönen Frucht hin. Die hätte sie gar zu gern gehabt, konnte aber nicht heran, weil auf tausend Schritte rechts und links im Gitter kein Tor war.
Und deshalb bat sie mich nun recht herzlich und freundlich und sagte: „Lieber Herr, geben Sie mir bitte doch diese Kastanie da her“; und ich hob die Kastanie auf, brachte sie dem Mädchen und reichte sie ihr durch die Eisenstäbe hin.
So standen wir am Gitter uns gegenüber und sahen uns freundlich lächelnd an. Und dabei muß es nun der Kleinen eingefallen sein, daß ich ja eigentlich eingeschlossen sei, weil eben im Gitter kein Tor war. Sie sah sich erst verschmitzt und vorsichtig nach allen Seiten um, dann beugte sie sich vor, spie mir mit aller Kraft ins Gesicht und lief hurtig von dannen.
Ich säuberte mein Gesicht, blickte dem kleinen Mädchen nach und sagte vor mich hin: „Schau, schau, die Kleine hat Einfälle, und sie hat Initiative. Sie wird es weit im Leben bringen. Sie wird vielleicht eine große Künstlerin oder eine berühmte Schriftstellerin werden und Zierde der Heimatkunst.“
Und ich setzte meinen Spaziergang nachdenklich fort und überlegte mir, wie ich meinerseits es doch eigentlich zu gar nichts Rechtem gebracht habe in diesem Leben.
 


Victor Auburtin