Wassersuche

von Karl Otto Mühl

Wassersuche
 
Der Schriftsteller hatte vieles versucht, um zum Thema und von da aus wieder zum richtigen Einfall zu gelangen. Er war im Flur gewesen, um zu prüfen, ob die Straßenschuhe für den späteren Ausgang genügend poliert waren, war zum Kühlschrank gegangen, und zwar viele Male, um sich eine Kleinigkeit zuzuführen, hatte sich auch manchmal vom Kühlschrank zurück an den Computer kommandiert, weil er bemerkte, daß dies alles Ausbruchsversuche waren. Er war mitten im Zimmer stehen geblieben und hatte mit erhobener Nasenspitze lange in den Himmel gestarrt – aber der Einfall war ausgeblieben. Er war blockiert.
Das passierte ihm selten, denn seine Arbeit lag ihm eigentlich. Er schrieb für andere Liebesbriefe, Schmeichelbriefe, Bittbriefe, Briefe an Behörden. Das war fast immer erfolgreich. Die Telefongesellschaft erstattete Gebühren wegen einer Fehlschaltung zurück, die Wasserverwaltung trennte zukünftig den Verbrauch des Herrn B. von dem seines Nachbarn A., alles schöne Erfolge. Auch die Damen, an die er im Auftrage seiner Klienten Liebesbriefe schrieb, zeigten sich selten einer näheren Bekanntschaft abgeneigt. Seine Erfolgsquote war hoch. Dabei folgte er dem einfachen Prinzip, daß so gut wie keine Frau einem kräftigen Kompliment widerstehen kann. Seine Erfolge hatten sich herumgesprochen und verschafften ihm wieder neue Kunden.
 
Aber nun war dieser Auftrag von der Wasser-Hauptverwaltung gekommen, er möge einen kurzen Essay über das von ihr gelieferte Wasser verfassen. Mehr wurde ihm nicht gesagt, aber, da es sich bei der Wasserhauptverwaltung um ein mächtiges Unternehmen handelte, hatte er den Auftrag sofort akzeptiert, hoffte er doch, sich sein künftiges Auskommen durch solche Aufträge sichern zu können:
Es wurde nicht deutlich gesagt, zu welchem Ereignis das Werk des Schriftstellers benötigt würde, auch nicht, was darin am besten gesagt oder wenigstens versteckt zum Ausdruck gebracht werden sollte, aber das Stichwort Wasser kannten alle: Die Abteilung für öffentliche Information, die Gebühreneinzugsstelle, die Lehrerin, die es als Aufsatzthema für die Kinder verwandte, die Kanalarbeiter. Allen schien plötzlich deutlich zu werden, daß sie vom Wasser lebten und davon, daß es sauber war. Trinken, Waschen, Reinigen, Schwimmen, Segeln, Kühlen, alles hing vom Wasser ab. Der Schriftsteller hatte den Eindruck, daß sich die ganze Stadt mehr und mehr auf dieses Thema hin ausrichtete, ja, er fühlte, daß zu präzise Gespräche über das Thema längst nicht mehr erwünscht waren. Es ging eher darum, daß sich alle gegenseitig der Bedeutung der bevorstehenden Ereignisse versicherten. Dies alles ergab viele lebhafte Begegnungen und das Gefühl von Gemeinsamkeit.
 
Der Schriftsteller hat den Drucker mit Papier gefüllt und im Computer eine Datei „Wasser“ eingerichtet. Er hat sich befohlen, seinen Arbeitsplatz während der nächsten Stunden nicht zu verlassen. Oh ja, er könnte das Wasser hymnisch, anakreontisch oder in Hexametern besingen, also so, wie er es einmal in einem Text über die rosenfingerige Morgenröte gelesen hat. Wie wär's mit:
 
„Du rannst geschwisterlich
in das Becken zur Taufe,
Wasser...“
 
Aber warum nicht direkter? Schließlich soll doch das Wasser der Wasserhauptverwaltung besonders herausgestellt werden. Vielleicht so: „Nur unser Wasser hat diesen Reflex in der Sonne.“ Oder ein Foto mit working men in Blaumännern. „So sehen wir aus. Wir sind für Sie da.“ Sie tragen das Signum der Wasserhauptverwaltung auf der Brust und auf dem Rücken. Oder er könnte schildern, wie er einmal im Krieg zwei Tage Durst gelitten hat. Wie sein Freund Kurt den letzten Schluck aus der Feldflasche mit ihm geteilt hat. Er wird es Kurt nie vergessen, aber gute Menschen sind zur Zeit für Geschichten nicht sonderlich gefragt.
Der Schriftsteller späht durchs Fenster nach Osten. Die Fensterrahmen, die Welt mit Bäumen und Hausdächern, alles löst sich auf in seinem Blick, verdunstet. Stattdessen: Palmen, Sand, Wüste. Eine Gruppe von Wüstenwanderern, verirrt auf der Suche nach Wasser. Zuletzt haben sie in einem Naturpark namens Eden trinken dürfen, seitdem nicht mehr, und jetzt sind sie dem Verdursten nah. Wenn er einen Mann schildern würde, der aus dem Fels Wasser schlägt wie Moses? Der dann als einsame Silhouette vor dem geröteten Abendhimmel steht?
So etwas hätte Größe. So etwas müßte er schreiben. Nein, lieber nicht, nicht was andere aus dieser Vorlage machen würden: Reiseabenteuer, Krieg, Schatzsuche, geheimnisvolle Orientalin, - nein, nein, nein! Das alles will er nicht. Auch die Geschichte mit Moses ist zu oft beschrieben worden. Geht alles nicht mehr.
 
„Gottlieb! Gottlieb,“ hört er plötzlich seine Frau aus dem Keller rufen, „komm schnell, Gottlieb!“
Es gehe nicht, ruft er zurück. Er würde sonst den Gedankenfluß unterbrechen. Alles wäre verloren. Er will es schaffen, er will spätestens um Acht fertig sein, dann will er zu seinem Lieblingstürken und einen deutschen Kartoffelauflauf essen. Oder sollte er jetzt schon gehen? Damit sich die Gedanken glätten, damit Gleichmut einzieht und sich die Elemente der Geschichte ohne Aufwand, heiter und leicht, auf ihre Plätze begeben?
„Gottlieb!“ Der Schrei seiner Frau klingt verzweifelt.
„Nein, nein, und abermals nein!“ ruft der Schriftsteller. Er weiß, daß, für sich genommen, aus jedem seiner Einfälle mit Fleiß etwas zu machen wäre. Aber das kann ihm nicht genügen. Schließlich hat er schon Wichtiges geschrieben, und fast immer gelang es ihm, aus dem vorgegebenen Text, aus der Schreibweise und dem Stil, die sich automatisch anboten, herauszuspringen, von einem neuen Aspekt aus wie von einer Felsklippe in spiritueller Heiterkeit auf das Material zu schauen und etwas Ureigenes zu schreiben. Wie bei einem meditierenden Mönch
 
Aber was sollte er nun wirklich schreiben? Der Schriftsteller steht auf, setzt die Baskenmütze auf, zieht die speckige Lederjacke an und ruft durch die Türe: „Ich gehe für eine Stunde zum Griechen. Nachdenken.“ Der Schriftsteller hat das Gefühl, heute den richtigen Wein zum Nachdenken nur beim Griechen zu finden.
 „Das wirst du schön lassen“, ruft seine Frau, die gerade die Kellertreppe herauf kommt, von oben bis unten durchnäßt. „Warum kommst du denn nicht? Hörst du? Hörst du wie es spritzt, das Wasser?“
 „Warum hältst du das Loch nicht zu?“
 „Habe ich doch die ganze Zeit getan. Mit dem Daumen. Aber ich kann nicht mehr. Jetzt bist du dran.“
Der Waschmaschinenschlauch war geplatzt. Und der Wasserhahn selbst ließ sich nicht zudrehen, war jahrelang nicht bewegt worden. Der Schriftsteller, inzwischen ebenfalls durchnäßt, kniet nieder und preßt den Schlauch zusammen.
 
„Ruf wenigstens den Stördienst!“ murrt er. „Lange halte ich es auf dem harten Betonboden nicht aus. Klatschnaß bin ich schon.“
 
Als er seine Frau oben in der Wohnung telefonieren hört, schießt es ihm durch den Kopf: 'Das hier, das wäre die Geschichte! Über zu viel Wasser!'
 

© 2013 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker