Kaiserliche Reitkunst

Eine Novelle

von Wolf Christian von Wedel Parlow
Kaiserliche Reitkunst
 
Berlin, 23. November 1890. Drei Tage zuvor, bei der Rekrutenvereidigung des Gardekorps am 20. November 1890, hatte der Kaiser die Rekruten beschworen, sie seien nicht nur zur Bekämpfung äußerer, sondern auch innerer Feinde berufen; sie müßten bereit sein, auch auf ihre Väter und Brüder zu schießen, wenn er es ihnen befehle. Sieben Wochen davor, am 30. September 1890, war die Gültigkeit der Sozialistengesetze, die den Sozialdemokraten jegliche parteipolitische Aktivität untersagten, abgelaufen.
 
Der Apfelschimmel scharrte mit dem linken Vorderhuf, als der Kaiser in den Sattel stieg. Graf Nörenberg, Generaladjutant Seiner Kaiserlichen Hoheit, blickte besorgt. Den Araberhengst ritt der Kaiser gewöhnlich nur beim Manöver. Aber hier, wo sich gleich Fenster und Türen öffnen und jubelnde Bürger bunte Tücher schwenken würden, war es bedenklich.
„Ich habe Sie warten lassen, mein lieber Nörenberg. Ich bitte um Entschuldigung. Miquel wollte nicht enden mit seinem Vortrag.“
„Wartezeit ist Bedenkzeit, Eure Majestät, ich langweile mich nie. Außerdem konnte ich mit meinem Braunen einige Runden drehen und die beiden Kürassiere gleich mit.“
„Sie denken aber auch immer an Geleitschutz. Was beunruhigt Sie so?“
„Nichts Konkretes, Majestät. Es ist erst drei Tage her, daß Eure Majestät selbst von den inneren Feinden sprachen, vom Geist der Empörung, der durch das Land gehe, wenn ich Eure Majestät zitieren darf.“
„Ja, da greifen Sie ein Thema auf, das mich fortwährend beschäftigt. Recht so, Nörenberg. Wir sprechen gleich mehr davon. Nun lassen Sie uns erst einmal Raum gewinnen!“ Im Schritt bogen sie Unter die Linden ein.
„Eure Majestät haben heute den Apfelschimmel gewählt, einen besonders temperamentvollen Hengst. Ich bewundere Ihren Mut.“
„Wir müssen die Anforderungen an uns selbst täglich steigern. Nur so können wir die kommenden Dinge meistern. Und die werden noch um einiges schwieriger werden als ein nervöser Araberhengst.“
„Eure Majestät können ganz ruhig sein. Sie haben sich mit klugen Männern umgeben, deren Rat Sie vertrauen können. Miquel zum Beispiel ist als Finanzminister der richtige Mann an diesem Platz.“
„Aber er redet mir noch zu viel. Er hat zu lange im Reichstag gesessen. Der Parlamentarismus fördert das Theoretisieren bar jeder wirklichen Kenntnis der Dinge. Und hier, im Reichstag, soll die Leitung des Reiches ihren Ursprung haben, wie es die Kaiserin Friedrich vorschlägt, meine eigene Mutter, die Tochter der Königin von England? Damit das Reich eines Tages von einem sozialdemokratischen Kanzler regiert würde und wir, die Hohenzollern, nur noch Stoffpuppen wären? Nörenberg, Sie sehen jetzt, wo die wirklichen Gefahren lauern. Mein seliger Großvater hatte Recht, als er das Gesindel am 18. März 48 mit Kartätschen auseinander treiben wollte.“
„Dennoch war es richtig, daß Eure Majestät den Konservativen kürzlich den Wink gaben, einer Aufhebung der Sozialistengesetze nicht mehr im Wege zu stehen. Jetzt, wo die Roten wieder offen als sozialdemokratische Partei agieren können, wird es ihnen viel schwerer fallen, ihre destruktiven Tendenzen zu verbergen. Das könnte sogar mäßigend auf sie wirken.“
„Mein lieber Nörenberg, was höre ich da aus Ihrem Mund! Als ob Sie das Sprachrohr der Kaiserin Friedrich wären! Was hat sie mir doch immer wieder in den Ohren gelegen: Gewähre den Roten wieder das Recht, sich als Partei zu konstituieren, und du wirst sehen, sie lassen ab von ihren umstürzlerischen Plänen! – Nörenberg, was geht dort vorne vor? Was macht der Kürassier dort, was ruft er den Leuten zu?“
„Er fordert sie auf, sich ruhig zu verhalten, wenn Eure Majestät vorbeireiten. Ich habe ihm das aufgetragen in Anbetracht des feurigen Arabers, den Eure Majestät heute zu wählen riskierten.“
„Ihre Fürsorge in Ehren, Nörenberg, aber Ventus hat mich noch nie enttäuscht.“ Er ließ die Zügel los und tätschelte dem Schimmel lobend den Hals. „Braves Tier, Ventus, nicht wahr, du bist die Ruhe selbst. - Sehen Sie, er bewahrt stoische Ruhe, oder haben Sie irgendetwas in seinem Wesen bemerkt, das zu Befürchtungen Anlaß gäbe?“
„Sie haben Recht, Majestät, er geht, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Auf wunderbare Weise verbindet sich die edle Natur des Hengstes mit Eurer Majestät Reitkunst. Denn erst letztere verleiht dem Gang des Pferdes diese vollendete Eleganz.“
Der Kaiser drohte Nörenberg mit dem Zeigefinger seiner gesunden Hand. Die Zügel hingen immer noch lose. „Das ist mir neu, mein lieber Nörenberg, daß Sie auch zur Schmeichelei fähig sind. Bisher habe ich Sie immer für einen aufrichtigen Menschen gehalten. Aber jetzt bin ich mir darin nicht mehr so sicher, nachdem Sie die Leute vor der Schreckhaftigkeit des kaiserlichen Reitpferds warnen ließen.“
Ein peinliches Schweigen setzte ein. Nörenberg biß sich auf die Zunge. Wie konnte er nur so dumm gewesen sein! Der Monarch dachte jetzt sicher, bei den Leuten werde davon zurückbleiben: Der Kaiser beherrscht sein Pferd nicht, wie soll er dann das Reich beherrschen?
„Mein lieber Nörenberg, Sie nehmen sich den Fehler doch hoffentlich nicht gar zu sehr zu Herzen. Ich weiß, es geschah aus Fürsorge, vielleicht aus unbedachter Fürsorge. Denn Sie wissen noch zu wenig, wie wichtig es mir ist, das Pferd, das ich gerade reite, ganz zu beherrschen. Es gelingt mir nicht immer so gut wie heute. Aber wenn es mir gelingt, dann steigt in mir der Wunsch auf, so möchte ich auch das Reich beherrschen. So wie das Pferd sich mit jeder Faser meinem Willen unterordnet, soll sich auch das Reich von mir lenken lassen.“
„Ein edler Wunsch, Eure Majestät. Es ist das Ideal jedes echten Monarchen. Aber angesichts tausenderlei unterschiedlicher Bestrebungen innerhalb des Reiches und der von außen an das Reich herangetragenen Forderungen besteht Staatskunst doch eher im Ausgleich so verschiedener Interessen ...“
„Ein kluge Einschränkung, die Sie da vorbringen, mein lieber Nörenberg. Und ich weiß es zu würdigen, daß Sie mich als den soviel Jüngeren in seinen politischen Einsichten weiterzubilden trachten. Aber noch mehr würde ich es schätzen, wenn meine Umgebung sich bemühte, mich in meinen Einsichten zu bestärken, statt mich zu korrigieren. Nur ein seiner selbst sicherer Monarch kann gute Entscheidungen treffen.“
Nörenberg steckte den Tadel ein. Bei Gelegenheit wollte er den Kaiser davon überzeugen, daß er von seiner Umgebung mehr verlangen müsse als nur die Bestätigung seiner Ansichten.
„Außerdem hörte ich aus Ihrer Rede schon wieder meine Mutter heraus, so als ob die englische Krankheit nun auch schon Ihren Kopf verwirrt hätte. Sie wissen doch, nach dem Willen der Kaiserin Friedrich soll sich meine Rolle darauf beschränken, den Kanzler zu ernennen, den zuvor der Reichstag gewählt hätte. Irgendwann stünde auch einmal ein sozialdemokratischer Kanzler auf der Matte, bitteschön, warum nicht. Und dessen Aufgabe wäre es dann, all die verschiedenen Interessen auszutarieren, von denen Sie sprachen. Das Reich wäre nicht wiederzuerkennen. Der Kaiser hätte nur noch Gesetze in Kraft zu setzen und Ernennungsurkunden zu unterschreiben, irgendwann vielleicht sogar seine eigene Abdankungsurkunde. Die Sozialdemokraten hätten erreicht, was der feigen Bande am liebsten wäre, einen Umsturz auf dem Gesetzeswege. So bin ich nicht angetreten, so lautet nicht das Erbe meines seligen Großvaters. Und dem allein bin ich verpflichtet. Es wird also Zeit, etwas gegen die weitere Ausbreitung der englischen Krankheit zu unternehmen. Der erste Schritt wird sein, den Krankheitsherd auszutreten, das heißt, die Kaiserin Friedrich in Quarantäne zu nehmen.“
„Eine elegante Lösung könnte sein, wenn ich mir erlauben darf, Eurer Majestät einen Rat zu geben, der Kaiserin Friedrich eine Kur vorzuschlagen, im Hessischen zum Beispiel, vielleicht in Bad Schlangenbad, und ihr dann die Rückkehr zu verwehren.“
„Bad Schlangenbad!“ Der Kaiser lachte schallend. Der Hengst machte einen Satz zur Seite. Der Kaiser parierte geschickt. Alle Achtung, dachte Nörenberg.
 
 
 
© Wolf Christian von Wedel Parlow, Mai 2013
Erstveröffentlichung in den Musenblättern