Den besten Service bieten fehlende Ohren

von Martin Hagemeyer

Den besten Service bieten fehlende Ohren
 
Diesen Sommer erwarb ich einen strohfarbenen Herrenhut. Ich erwog, auf ihm den Hinweis anzubringen: DIESER HUT IST WEDER NEO-ALTHERRENMÄSSIG STILVOLL GEMEINT NOCH JUNGMANNMÄSSIG COOL WIE BEI ROGER CICERO ODER JAN DELAY, SONDERN SCHÖN, doch die Krempe war zu kurz. Da ich weder swinge noch Schnupfen habe, wäre ich auch überhaupt nicht in der Lage, diesen Herren glaubwürdig nachzueifern. Als ich Ende Juli zum Friseur ging, hätte ich ihn vermutlich ohnehin absetzen müssen; doch hatte ich mir zudem den windigsten Tag des Jahres ausgesucht.
Bereits am Vortag hatte ich einige einschlägige Lokalitäten in Augenschein genommen, darunter ein Angebot, das laut Tafel obligatorisch Beratung einschloß. Gern hätte ich für Waschen und Schneiden allein den vollen Preis gezahlt; doch wagte ich nicht zu fragen, ob ohne Beratung auch geht. Daher ließ ich den Laden links liegen, denn vor einigen Wochen hatte mich eine junge Dame in einem Elberfelder Etablissement einer anderen Branche derart schweißtreibend durchberaten, daß ich für die nächste Zeit genug hatte.
Hierbei handelte es sich um einen Waschsalon in der Südstadt, der seit kurzem alles Lamentieren über die angebliche Servicewüste Deutschland Lügen straft. Anscheinend werden dort nur Personen beschäftigt, die vierfache Mutter oder abgebrochener Pädagogikstudent oder beides sind; ich jedenfalls bot offensichtlich einen sehr hilfsbedürftigen Eindruck, sodaß die Salondame nicht nur darauf bestand, mir zu erklären, wie man die Maschine in Gang bringt, sondern auch wie man die Münzen einwirft, und außerdem darauf, teilnahmsvoll dem Einwurf meiner siffigen Socken beizuwohnen. Nie wieder, beschloß ich undankbarerweise und lenkte meine Schritte das nächste Mal zum pädagogikfreien Konkurrenzsalon; denn Servicewüste hin oder her: Wüsten sind bekanntlich leer und tödlich, aber dafür hat man auch seine Ruhe.
Zuviel Diensteifer kann aber nicht nur anstrengend sein, sondern auch fragwürdig aus sozialen Gründen. Wer die Äpfeleinpacker und Türaufhalter in den USA unseren schlechtgelaunten Verkäuferinnen als Vorbild entgegenhält, sollte nicht vergessen, daß erstere wahrscheinlich durch pure Not und fehlende Absicherung zu derartiger Buckelei gezwungen werden; und auch in hiesigen Filialen der Weltkonzerne lächelt dem Kunden oft nur die nackte Sorge entgegen, daß man womöglich ein Testkäufer der Geschäftsführung ist, die den naiven Irrglauben der Kunden kennt, „freundlich“ sei ein Feature unter „Standardeinstellungen“.
In puncto Dumpinglöhne allerdings leistete ich mir am Frisiertag eine leckere Portion Naivität; das ist nämlich auch schon mal nett. Haarschnitte für neun Euro fünfzig sind sicher etwas für Freunde des kleinen persönlichen Risikos, aber nicht zwingend Ausbeutung. Ich persönlich kann gut mit der Vorstellung leben, daß der an mir herumschnipselnde Herr mangels Ausbildung und Talents weniger Geld einstreicht als sein zertifizierter Kollege um die Ecke, und der Herr kann das mutmaßlich auch; aber an diesem Deal kann selbstverständlich nur mittun, wer bei der Frisur einigermaßen unempfindlich ist. Hier bringe ich günstige Voraussetzungen mit: In meiner Kindheit waren mein Vater, mein Bruder und ich Stammkunden bei einem frisierenden ehemaligen Boxer, der uns für je siebzehn Mark unseren üblichen Fassongschnitt um die Rübe meißelte.
Und auch heute sage ich: Ein Friseurbesuch soll für mich in erster Linie der kritischen Welt ein Resultat präsentieren, das signalisiert: Liebe kritische Welt, mit Vergnügen füge ich mich Ihrer Konvention, daß man sichtbar zum Friseur gehen sollte. Da das auch auf keine Krempe paßt, braucht es Friseure, aber keine Fachfrisuren, denn eine mäßig gemähte Mähne bietet diesen Service ja ebensogut. Fehlendes Ohr ist sogar noch praktischer.
 

© Martin Hagemeyer
Übernahme aus TEXTKUNST mit freundlicher Erlaubnis