Schreiben – nichts als Schreiben

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Schreiben – nichts als Schreiben
 
Michael Zeller erzählt Kindern
von der Arbeit des Schriftstellers
und wie er selbst zum Schreiben kam
 
 
I.
 
Da ist ein kleiner Junge gewesen, vor vielen, vielen Jahren, und der war gar nicht anders, als es die Kinder heute sind. Er ärgerte sich, daß er so früh aufstehen mußte, um rechtzeitig in der Schule zu sein. Er freute sich, wenn mittags zu Hause auf dem Küchentisch eine bestimmte Schüssel stand: die mit Griesbrei und Rosinen. Das war sein Leib- und Magengericht. Und er hatte einen Traum. Er träumte von einem Fahrrad. Einem richtigen Fahrrad, wie es die Großen fuhren. Seinen Roller, mit dicken weißen Reifen, hatte er lange geliebt. Aber jetzt schämte er sich ein bißchen, wenn er damit manchmal noch die Straßen am Grauberg herunterfuhr. War er nichts längst viel zu groß dafür? Seit zwei Jungen in seiner Klasse ein Fahrrad geschenkt bekommen hatten und große Töne spuckten, wie weit sie damit kämen – über die Brücke und über den Fluß, sogar bis in die nächste Ortschaft hinein, da war er unzufrieden geworden mit seinem Roller. Das war doch nur ein doofer Kinderroller. Und er konnte damit nur bergabwärts fahren. Auf dem Rückweg mußte er schieben. Wie öde. Er war doch längst kein Kind mehr!
Wenn die Geschichte von dem Jungen, der sich ein Fahrrad wünscht, heute spielen würde, wie, denkt Ihr, würde sie dann weitergehen?

Doch die Geschichte, die ich Euch heute hier erzähle, geht anders weiter. Denn, wie ich Euch zu Anfang sagte: der kleine Junge lebte nicht heute, sondern vor vielen, vielen Jahren.
Damals war gerade in Deutschland und in Europa ein großer Krieg zu Ende gegangen. Der Vater des Jungen war in dem Krieg umgekommen, und er lebte auch nicht in der Stadt, in der er geboren worden war. Als der Krieg dorthin kam, hatte die Mutter mit ihren Kindern fliehen müssen, und sie waren in dieser Gegend gelandet, weil sie dort Verwandte hatten, ziemlich ferne Verwandte.
Alles war fremd hier und unfreundlich. Die Leute sprachen auch anders als seine Mutter und die Geschwister zuhause. Verstehen konnte er sie gerade – es waren ja Deutsche -, aber fremd blieb es immer für ihn. Wenn er von der Mutter in ein Geschäft geschickt wurde, um Brot zu holen oder Wurst, und er seine Bestellung aufsagte, merkte er: Auch die Leute verstanden ihn nicht gleich. Sie schauten ihn groß an, weil sie hörten, daß er nicht von hier war. Er war heilfroh, wenn er Brot und Wurst in der Tasche hatte und wieder aus dem Laden war. Das ist eben die Welt der Erwachsenen, dachte er sich. Die sind sowie ganz anders als wir Kleinen.
Auch die Sache mit dem Fahrrad ging nicht glatt. Ein Fahrrad war damals noch ein teures Gerät, und die Mutter hatte einfach nicht das Geld, ihm eins zu kaufen. Das war eine große Enttäuschung für ihn, und er mußte lernen, daß manche seiner Träume, die er hatte, nicht zu erfüllen waren. Keiner konnte etwas dafür. Das war eben so.
Und Kinder sind, wie Ihr gut wißt, ja sehr klug. Seit längerem schon hatte der Junge eine Entdeckung gemacht, über die er sehr glücklich war: das Lesen. In den Büchern, die er sich in der Schule ausleihen konnte, standen Geschichten, die ihn hinaus führten in die große weite Welt. Bis nach Afrika, bis in die Wüsten von China, zu den Indianern in den Prärien Amerikas, oder zu den Rittern, die in grauer Vorzeit von ihren Burgen losritten und draußen die tollsten Abenteuer bestehen mußten, gegen Drachen und wilde Tiere. Weite Welten öffneten sich vor ihm, fremde Namen. So weit wäre er mit einem Fahrrad niemals gekommen, auch nicht mit dem besten, das man kaufen konnte.
So wurde aus dem Jungen eine Leseratte. Er las alles, was ihm unter die Finger kam, überall, auch unter der Bettdecke abends, mit der Taschenlampe, wenn die Mutter längst das Licht gelöscht hatte in dem Zimmer, in dem er und die Geschwister schliefen. Das heißt nicht, daß er nicht manchmal doch den anderen nachschaute, wenn sie mit ihren Fahrrädern an ihm vorbeifuhren und wie Verrückte klingelten. Ein bißchen neidisch war er dann schon. Aber er hatte einen Trost, einen starken Trost: Gleich würde er mit Gustav Nachtigal durch die Steppen Afrikas reiten, er würde Hitze und Durst und Sandstürmen trotzen und neue Völker kennenlernen, die noch kein Mensch gesehen hatte, und zum Abend, gerade wenn der Sonnenball blutrot im Horizont versank, abends würde er an der Seite des bewunderten Helden in Timbuktu einreiten, und der Sultan würde ihnen allen im Schein von Fackeln ein großes Fest bereiten.
Als der Junge dann die Schule wechselte und der Weg zu weit war, besorgte ihm der ältere Bruder ein altes, verstaubtes Damenfahrrad, das er in einen Schuppen ausfindig gemacht hatte. Der Junge richtete sich das Rad her, mit einer extragroßen Klingel am Lenker, und er freute sich die erste Zeit sehr daran. Aber den Zauber seines früheren Traums erreichte dieses Fahrrad nie. Daß er jetzt ständig Platten flicken mußte, daran hatte er damals als kleinerer Junge nie gedacht. Bald war das Rad für ihn ein Gerät des Alltags geworden.

Mit dem Lesen ging es ihm anders. Auch als er älter wurde, Jahr um Jahr, verlor sich der Glanz, der von den Büchern ausging, niemals. Jetzt begleitete er nicht mehr Gustav Nachtigal durch das trockene Afrika oder kämpfte an der Seite von Winnetou gegen die Sioux-Indianer – mit den Jahren reizten ihn andere Sensationen. Aber Sensationen sind es geblieben. Und der kleine Junge von vor vielen, vielen Jahren kann bis auf den heutigen Tag an keinem Wühltisch mit Büchern vorbeigehen, ohne daß er die Kiste bis auf ihren Grund durchstöbert hat und jeden Titel kennt, aber auch jeden. Und obwohl seine Regale mittlerweile aus allen Nähten platzen, findet er jedesmal mindestens ein Buch, das er unbedingt haben muß und mitnimmt. Der Zauber des geschriebenen Wortes, schwarz gedruckt auf weißem oder angegilbtem Papier, in einem Buch, der hat sich für ihn niemals verloren.
So hat das alles angefangen, in sehr früher Kindheit. Und wenn man eine so leidenschaftliche Leseratte ist, kann es nicht ausbleiben, daß man eines Tages, ganz plötzlich, selbst so etwas machen will. Der scheue Wunsch, auch so eine Geschichte zu erzählen, die andere dann lesen werden. Und irgendwann – da war der Junge nicht mehr klein, er ging schon in die mittleren Klassen des Gymnasiums, wie die Oberschule damals hieß - irgendwann schrieb er dann seine ersten Zeilen, das Blatt aus einem Mathe- oder Erdkundeheft herausgerissen: ein Gedicht, ein philosophischer Gedanke, der Anfang einer Erzählung.
Es fällt mir schwer, Euch das Gefühl zu beschreiben, das der Jungen danach empfand. Ein so großes Gefühl war in ihm, ein Glück, wie er es noch nie in seinem Leben gespürt hatte. Er las das, was er gerade geschrieben hatte, in aller Heimlichkeit, und er las es noch einmal, und las es immer wieder. Und mit jedem Lesen wurde es größer und bedeutender. Als wäre es das erste Wort, das er, der Junge, zur Welt gesagt hätte: sein Wort zum Leben. Das, was er da gerade aufgeschrieben hatte, nicht für die Schule, nicht an die Verwandten – (ja, an wen eigentlich?) – das hatte noch kein Mensch vor ihm so gesagt und würde es auch später nie mehr so ausdrücken. Dieses sein Wort zum Leben gehörte ihm – nur ihm allein. Und er trug den Zettel aus dem Mathe- oder Erdkundeheft die nächsten Tage mit sich herum als sein Geheimnis. Ein verborgener Schatz, von dem außer ihm niemand wußte.
Mittlerweile gab es mehrere solcher Zettel, und da stellte sich für den Jungen die Frage, was mit seinem Schatz anzufangen sei. Sollte er denn für immer und ewig verborgen bleiben? Durfte niemand einen Blick hinein tun? Der Junge ging sämtliche Personen durch, die er kannte, und bei jeder schüttelte er den Kopf: Nein, niemals! Nur einer blieb übrig: Gottfried, sein bester Freund. Mit ihm teilte er fast alles, was ihn beschäftigte und beunruhigte, quälte und freute in seinem Leben.
Wie schwer es ihm fiel, sich von seinen Kostbarkeiten zu trennen! „Primanerlyrik“ – das Wort hatte er mal aufgeschnappt, und es hatte ihm den schlimmsten Verdacht ins Herz gesenkt. Wenn das alles nur lächerlicher Quark ist, was einmal sein tiefstes Glück gewesen ist? Er packte seine Blätter in einen Umschlag und schob ihn Gottfried über den Tisch zu, ohne ihn anzuschauen. Ich bin fast sicher, daß seine Hand dabei zitterte.
 
II.
 
Das, was ich Euch eben beschrieben habe, ließe sich als die Geburt eines Schriftstellers bezeichnen. Es ist ein wirklich zauberischer Akt. Da setzt sich irgendwo auf der Welt ein Mensch hin (er muß durchaus nicht immer jung sein), er setzt sich hin und fängt an zu schreiben. Ohne einen Auftrag, nur für sich. Ohne ein Ziel – ins Blaue hinein. Wenn er irgendwo hinkommt, überrascht es ihn selbst. Mit diesem Ende hätte er nie gerechnet. Wenn ihm das Ende gefällt, freut er sich, ja, dann ist er so glücklich, daß es dafür keine Worte gibt. Dann weiß er, wie schön das Leben ist.
Oder aber sein Schreiben geht ins Leere, kommt nirgendwo an. Verkorkst, mißraten, versaut. Das Blatt wird zerrissen – ab in den Papierkorb. Dann ist der Schreibende tief unglücklich. Er zweifelt an sich, an seinem Talent. Er ist ja gar kein richtiger Schriftsteller. Alles, was er bisher gemacht hat auf dem Papier, und wenn es zwanzig Bücher sind, alles war bloßer Zufall. Im Grunde taugt es so wenig wie das zerrissene Blatt beim Abfall.
Beide Gefühlsausschläge – das Glück, die Verzweiflung – gehen sehr tief in die Person eines Schreibenden hinein. Diese Extreme auszuhalten, ist für einen Menschen schwer, und nicht nur für ihn. Auch für die Personen, die mit ihm zusammenleben, die ihn mögen. Und er, der angeblich so gut mit Worten umzugehen weiß, kann darüber nicht reden. Er bleibt stumm. Sein Glück, seine Verzweiflung kann er niemandem mitteilen, daß ihm geholfen werden könnte. Den Traum alleine tragen, hat einmal ein deutscher Dichter gesagt, und das stimmt genau. Träumen kann man nur allein. Und Schreiben.
 
Und für wen schreibt er überhaupt, der Schriftsteller? Für keinen bestimmten Menschen. Für kein bestimmtes Publikum. Bei mir jedenfalls ist das so. Im Grunde rede ich, wenn ich an meinem Schreibgerät sitze, mit mir. Schreiben ist ein leises Selbstgespräch. Etwas, das mir wichtig ist, will ich festhalten, etwas, das mir gestern aufgefallen ist, beim Einkauf in einem türkischen Supermarkt oben am Ölberg. Oder ich schaue Kinder in meinem Viertel zu, wie sie Wettlauf spielen mit den Autos in der Straße.
 
Wie war das
als wir
mit kurzen Beinen
den Wettlauf wagten
mit der Macht der Erwachsenen
und dem Automobil?
 
Der Schorf am Knie
oder die lose Sandale
verzerrten den Wettbewerb eher
als die überlegenen
Stärken der Pferde
 
So stark waren wir
damals
setzten das Ziel des Laufs selbst
und stiegen aus
keuchend vor Stolz
als das eingebildete Zielband
zerrissen war
und ließen die unbegriffne dumme Macht
besiegt und gedemütigt
abdampfen
 
Unser Tag
eine Summe von Siegen
nur die ziellose Rachsucht
der Großen
erkannte sie
nicht an
 
Dann gab’s Tränen manchmal
und Rache durch Winnetou
 
Dichter und Kinder – sie haben viel gemeinsam. Oft sind Kinder mir jedenfalls näher als die Erwachsenen und ihre Art zu denken und zu fühlen. Dichter seien nie erwachsen geworden, sie seien Kinder geblieben, behaupten manche. Und ich fürchte: Sie haben recht. Doch ganz stimmt es nicht, was ich Euch eben sagte: der Schriftsteller schreibe nur für sich. Er wäre durchaus nicht zufrieden damit, wenn seine Erzählungen und Gedichte in der Schublade verschwänden und dort blieben und nie einen anderen erreichten. Nein, er spricht jemanden an bei seinem Selbstgespräch am Schreibgerät. Es pocht die Sehnsucht in ihm, daß ihn jemand dabei belauscht – und versteht.
Doch er hat keine bestimmte Vorstellung von diesem erhofften Jemand. Ob Kind oder erwachsen, ob Mann oder Frau, ob er Deutscher ist oder eine andere Sprache spricht. Das zweitschönste Gefühl, nach dem Schreiben selbst, ist für mich die zufällige Begegnung mit diesem fremden Jemand.
Stellt Euch die Situation vor: Irgendwo begegnet mir ein Mensch, ich habe ihn nie vorher gesehen. Wir kommen ins Gespräch, und dann erzählt mir der Fremde von einem Buch, das er gerade liest und das ihn beeindruckt. Und es ist – unglaublich! - wirklich ein Buch von mir, das ich vor Jahren vielleicht, vor Jahrzehnten geschrieben habe, an das ich mich selbst nur noch blaß erinnere. Und der Fremde hat es gerade vor kurzem in die Hände bekommen und gelesen und fand etwas darin, das ihn bewegt hat, woran er seine Freude hatte und das sein eigenes Leben bereichert hat. Wir lachen uns in die Augen, geben uns die Hand, gehen auseinander und werden uns wahrscheinlich niemals wiedersehen.
Dann hängt für mich der Himmel voller Geigen. Dann weiß ich, daß mein Selbstgespräch an den Tasten nicht ins Leere gegangen ist. Und vielleicht hilft es mir ja, wenn ich an dem Text, den ich gerade schreibe, verzweifle und ihn für mißlungen halte – gut genug nur für den Papierkorb.
Vor Jahren hat mir ein polnischer Freund und Kollege die Geschichte erzählt, wie er mit der Eisenbahn durch Polen fuhr und in einem kleinen Bahnhof eine Frau sah, die am Bahnsteig saß und ein Buch las – und er erkannte: Das ist ja ein Buch von mir! Er sprang auf, wollte raus, reden mit der Frau. Aber da fuhr der Zug wieder an, und es blieb ihm nur die Erinnerung an ein schönes Bild.
Diese Geschichte hat mir gut gefallen, sie scheint mir typisch für das Verhältnis von Autor und Leser zu sein – eine anonyme Beziehung und gleichzeitig zutiefst persönlich. Deshalb habe ich daraus eine Erzählung gemacht, sie heißt VOM GESCHENK DES VERSCHWINDENS. Ja, ich höre gerne den Menschen zu und lasse mir ihre Geschichten erzählen. Alle meine Erzählungen und Romane kommen aus Begebenheiten, die ich selbst erlebt habe. Erfundene Geschichten mag ich nicht. Ich bin überzeugt, das Leben ist unendlich viel reicher und witziger und überraschender, als ein Mensch es sich je ausdenken kann. Das ist dem kleinen Jungen schon vor vielen, vielen Jahren nicht anders gegangen, als er unter der Bettdecke seine ersten Bücher las.
 
III.
 
Jetzt habe ich Euch berichtet, was mir bei meiner Arbeit wichtig ist. Schreiben, der Traum des Kindes, ist mein Brotberuf geworden. Seit mehr als dreißig Jahren tue ich nichts anderes, als Bücher zu schreiben, jeden Morgen ab neun Uhr früh. Und Ihr dürft mir glauben: Trotz der langen Zeit lebt der Kindheitstraum weiter in mir. Er ist mir auch in den schwersten Tagen niemals abhanden gekommen.
 
 
 
Rede vor Kindern in Wuppertal am 9. Dezember 2012