Der Zeichner als Erzähler (6)

“Opas Engel” - von Jutta Bauer

von Joachim Klinger

© Carlsen Verlag

Der Zeichner als Erzähler
 
Bildbücher, die ich nicht missen möchte (6)
 
von Joachim Klinger



VI
 
“Opas Engel” von Jutta Bauer
(Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2001)
 
Jutta Bauer wurde 1955 in Hamburg geboren. Sie hat sich als Illustratorin von Kinderbüchern und eigenständige Autorin einen Namen gemacht (z.B. ihre “Emma”-Bücher bei Carlsen, “Juli tut Gutes” und andere “Juli”-Bücher bei Beltz). 2010 erhielt sie den Hans Christian Andersen-Preis.
Nach meiner Einschätzung ist “Opas Engel” ihr schönstes Buch. “Schön” im Sinne von anrührend, liebenswert und formvollendet. Der Erfolg bei der Leserschaft – ganz gewiß  mehr Erwachsene als Kinder – spricht für sich.
Dabei handelt es sich um eine Geschichte, die einerseits in die Gefahr unerträglicher Rührseligkeit hätte geraten und andererseits in eine traumselige Unwirklichkeit hätte abgleiten können.
 
Opa, eine ausgemergelte Gestalt, liegt im Hospiz, unter dem Bettgestell die Urinflasche. Man spürt, Genesung ausgeschlossen.
Sein Enkel besucht ihn, und Groß vater erzählt. Er erzählt gern und beginnt mit den Worten:
            “Junge, mir konnte keiner was …”
 
Und nun durchlaufen wir mit ihm seine Lebensphasen: die Schulzeit mit dem langen Schulweg, den einsamen Gegenden, den gefährlichen Gänsen.
 
            “Ich war immer der Mutigste von allen,”
berichtet Groß vater,
            “kletterte auf die höchsten Bäume, sprang in die tiefsten Seen.”
 
Aus Prügeleien ging Großvater meist als Sieger hervor, aber er verlor seinen jüdischen Freund Josef.
“Irgendwann verschwand er plötzlich.”
 
Als er erwachsen wurde, gab es Krieg, Hunger und Not. Großvater schlug sich durch, fand immer wieder Arbeit, verliebte sich, wurde Vater, baute ein Haus. Später kamen das Auto, Urlaubsreisen, Enkel …
            “Ich hatte viel Glück,”
sagt Großvater über sein Leben. Eigentlich ein alltägliches Leben ohne “großartige” Ereignisse.
Das alles wäre hübsch, aber vielleicht belanglos, käme nicht noch eine andere Dimension ins Spiel. Mit ihr wird das “Glück” umgedeutet. Sprechen wir von “Fügung”.
Denn die Bildererzählung macht uns das Wirken eines Schutzengels deutlich. Nein, keine imposante Erscheinung mit goldenem Haar, wallendem Gewand und herrlichen Schwingen. Vielmehr ein mütterlicher, rundlicher Typ mit freundlich-besorgtem Gesichtsausdruck, manchmal auch sorgenvoll-bekümmert.
Dieser Schutzengel bewahrt den Jungen auf dem Schulweg vor Ungemach, holt ihn aus dem Wasser, besänftigt bissige Hunde und wütende Amtsträger. Er fängt bei Mauerarbeiten herabstürzende Ziegelsteine auf, schiebt finstere Wolken zur Seite und sichert Badefreuden ab, indem er einem Haifisch das Maul zuhält.
 
Hans Traxler hat in seinem “Schutzengelbuch” (Wilhelm Heyne Verlag München, 2005) erläutert, warum Gott Schutzengel geschaffen hat und daß darunter auch Deppen und Tölpel sind. Jutta Bauer hat einen Schutzengel ins Bild gesetzt, der absolut glaubwürdig ist. Jeder wird an seine Mutter, Oma, eine liebe Tante denken, wenn er ihm zusieht.
 
Als der Enkel das Krankenzimmer verläßt – Großvater ist müde und hat die Augen geschlossen -, streichelt der Schutzengel Großvaters Wange, liebevoll, aber traurig. Der Enkel geht hinaus in den strahlenden Tag, und – siehe da! – der Schutzengel folgt ihm aus dem Hospiz. Eine Aufgabe ist beendet, eine neue beginnt für ihn …
Wir wissen, daß  viele Menschen glauben, einen Schutzengel zu haben. Daß  die Vorstellung vom Wirken der Engel häufiger anzutreffen ist als die vom “Regiment” eines gütigen Gottes. Der mütterliche Engel von Jutter Bauer erfüllt alle Voraussetzungen, um gnädige Fügungen plausibel erscheinen zu lassen. Opa war das Glück eines behüteten Daseins beschieden.
 
Der Zeichenstil von Jutta Bauer ist einfach, locker, leicht. Er ist dem Inhalt ihres Buches angemessen, ebenso anrührend wie der knappe Text. Die erreichte Geschlossenheit teilt sich dem Leser / Betrachter eindringlich mit. Ein Werk, das nicht so bald vergessen sein wird!

 
 
Lesen Sie morgen an dieser Stelle Teil 7 (von insgesamt 10) der neuen Serie von Joachim Klinger