Der Zeichner als Erzähler (4)

“Spiegelmensch – Ein deutsches Wintermärchen” - von Tomi Ungerer

von Joachim Klinger

Der Zeichner als Erzähler
 
Bildbücher, die ich nicht missen möchte (4)
 
von Joachim Klinger



IV
 
“Spiegelmensch – Ein deutsches Wintermärchen” - von Tomi Ungerer
(Diogenes Verlag AG Zürich 1973)
 
Kurt Flemig nennt ihn in seinem verdienstvollen Karikaturisten-Lexikon (1993 erschienen bei K.G. Saur in München, New Providence, London, Paris) einen “elsässischen Zeichner von internationalem Format”. Das ist zutreffend und doch zu wenig.
Tomi Ungerer, geboren 1931 in Strassburg, ist ein Phänomen, ein Tausendsassa, ein Mordskerl, ein enfant terrible …
Viele Jahre brachte er in den USA, Kanada und Irland zu, bis er in seine Heimat zurückkehrte. Er arbeitete als Werbegrafiker, Illustrator, Zeichner, Karikaturist und Kinderbuchautor und wurde weltberühmt.
Nebenbei: mir gefällt besonders, daß er aus Abfallprodukten und Zufallsfunden bizarre Skulpturen bastelt und altes Spielzeug sammelt.
 
Eingetaucht in die amerikanische Gesellschaft, haben ihn Erfolgsbesessenheit und Gedankenleere, Geldgier und Geilheit in schockierenden Erscheinungsformen dazu getrieben, in einer Vielzahl von Zeichnungen den Menschen den Spiegel vorzuhalten und sie zu entlarven. Den sexuellen Exzessen ist er keineswegs ausgewichen. Er hat sie in Bildern festgehalten und damit Beifall und Entsetzen ausgelöst. Den Vorwurf der Obszönität und perverser Tendenzen hat er genauso “locker weggesteckt” wie die zahlreichen Lobpreisungen und Auszeichnungen.
 
Tomi Ungerer führt den spitzen Stift mit absoluter Sicherheit und gestaltet pointenreiche Situationen. Aber auch beim Einsatz von Farbe erweist er sich als Meister und schafft leuchtende großflächige Bilder, die Kinderherzen höher schlagen lassen. Aufzählen kann und muß man die vielen Werke nicht.
Ich habe mich bei meiner Auswahl für “Spiegelmensch” entschieden. Das Buch beginnt mit dem Satz:
 
“An einer Mauer am Ende einer Sackgasse lebte einmal ein Spiegel.”
 
Lebte! Also ein eigenständiges Sein! Auch eigenwillig, denn
            “gewöhnlich spiegelte er die Leute nicht wider.”
 
Anders hielt er es mit Wolken und Vögeln.
Doch eines Tages sieht sich ein Mann im Spiegel, ein komischer Mann mit Schellenmütze. Sein Anblick ergrimmt ihn, und er wirft einen Stein gegen das Spiegelbild. Der Spiegel zerbricht nicht; der zurückprallende Stein läßt vielmehr den Mann zerspringen.
 
Weiter heißt es:
            “Sein Spiegelbild blieb bestehen.”
 
Es freute sich eine Zeitlang am Himmel und den Vögeln. Doch eines Nachts klettert der Mann, gelangweilt, bärtig und hungrig, in die Wirklichkeit zurück. Natürlich nimmt ihn niemand auf oder hilft ihm. Schließlich erbarmt sich eine Frau dieser “lebendigen Ruine”.
Sie badet und pflegt ihn, gibt ihm zu essen und zu rauchen. Dann beginnt sie ihn zu verführen und hat Sex mit ihm … So gezähmt wird der Spiegelmensch rasiert, eingekleidet und auf eine vakante Stelle bei einer Firma geschickt.
Es folgen beruflicher Aufstieg, Wohlstand und tödliche Langeweile. Nach einer Sex-Orgie auf einer Silvesterfeier verläßt der Spiegelmensch die betrunkene Gesellschaft und gerät in einer Sackgasse vor einen Spiegel … Wir ahnen, was kommt!

Tomi Ungerer - © Joachim Klinger
 
Ein kleines Buch, jedoch das Ungenügen an der Monotonie der Überflußgesellschaft, den Ekel vor ihrer Übersättigung und dem ausschließlich von Lust an Vergnügungen geprägten Lebensstil, das alles finden wir hier.
Aber es gibt auch den mitleidigen Blick auf “den kleinen Mann”, der damit nicht fertig wird. Im Grunde haben wir es mit einem Zeitportrait zu tun, das uns nachhaltiger beeindrucken kann als die wissenschaftliche Sozialanalyse. Dazu die hinreißende, possierlich-erschütternde Aufbereitung! Man achte z.B. auf den heranrollenden Chef!
 
Im Untertitel heißt es: “ein deutsches Wintermärchen”, eine Anspielung auf Heinrich Heine. Aber wieso “deutsch”? Diese Geschichte läßt sich überall ansiedeln …
 

Lesen Sie morgen an dieser Stelle Teil 5 (von insgesamt 10) der neuen Serie von Joachim Klinger