Der Zeichner als Erzähler (1)

“Die Reise” von Friedrich Karl Waechter

von Joachim Klinger

F.K. Waechter - © Joachim Klinger
Der Zeichner als Erzähler
 
Bildbücher, die ich nicht missen möchte (1)
 
von Joachim Klinger
 
 
Wer zeichnet, schreibt auch.
 
Das habe ich immer gesagt und oft erlebt. In seinem Aufsatz über Paul Flora, einen Großen der Zeichenkunst, “Zeichner und Schriftsteller” (München 1956) führt Erich Kästner aus:
 
 “Der Zeichner und der Schriftsteller, diese Zwillinge, sind Erzähler … Beide Zwillinge hantieren mit Stift und Feder. Beide schreiben, was sie zu erzählen haben, auf Papier. Der eine bedient sich der Buchstaben. Der andere schreibt in Bilderschrift … “
 
(Der gesamte Text findet sich in “Das Erich Kästner Lesebuch” Diogenes
Tb. 20515 aus dem Jahr 1978).
 
Der Begriff “Zwillinge” veranschaulicht Nähe. Aber ich habe die personale Identität zwischen dem Zeichnenden und dem Schreibenden beobachtet und wiederhole: Wer zeichnet, schreibt auch. Treffend hebt Kästner das verbindende Anliegen der “beiden” – oder in der einen Person! – hervor: Erzählen wollen.
“Sie fabulieren, berichten, träumen, klagen an, spotten, lachen und schwärmen. Zu allem braucht man Welt: Palmen, Gesichter, Pluderhosen, Kirchenportale, Kentauren, Blumentöpfe, Karyatiden, Generäle und reisende Engländer.”
(Op. cit. S. 123 unten).
 
Welche Tätigkeit gewinnt die Oberhand, das Schreiben oder das Zeichnen? Es ist müßig, diese Frage zu stellen.
 
Alfred Kubin (1877 – 1959) war ein geradezu besessener Zeichner; er schrieb auch den Roman “Die andere Seite” und die Autobiographie “Aus meinem Leben” in zahlreichen Fortsetzungen (1911 - 1952).
Bei Wilhelm Busch (1832 - 1908) kann man sich die Trennung von Zeichnen und Schreiben gar nicht vorstellen. Gewiß, er hat einerseits gemalt und Skizzenbücher gefüllt, andererseits im Alter “nur noch” Gedichte geschrieben (“Zu guter Letzt”, “Schein und Sein”). Über lange Strecken seines Lebens fertigte er aber Bildergeschichten an, die eine zwingende Einheit von Text und Zeichnung erkennen lassen.
In unserer Gegenwart erfreuen / erfreuten uns zahlreiche schreibende Zeichner. Ich nenne nur Jean Effel, Raymond Peynet, Jean-Jacques Sempé, Ronald Searle, Edward Gorey, Maurice Sendak, Roland Topor und Tomi Ungerer.
 
Einige Werke möchte ich vorstellen, weil sie mir liebenswerte Begleiter geworden sind. Ich mag sie nicht missen.
 
 
I
 
“Die Reise” von Friedrich Karl Waechter

© 1980 Diogenes Verlag
(Diogenes Verlag AG Zürich 1980)
 
Friedrich Karl Waechter, 1937 in Danzig geboren, 2005 in Frankfurt a.M. gestorben, gehört mit Robert Gernhardt, Hans Traxler und F. W. Bernstein zu der nun schon legendären “Neuen Frankfurter Schule”, die mit Spottversen, Nonsens-Gedichten, Bühnenstücken, Kinderbüchern, Karikaturen, Cartoons und Illustrationen die deutsche Kultur reich beschenkt und fortwirkende Impulse ausgesandt hat.
 
Ich schätze Waechters Zeichenstil, besonders seine sparsame Strichelung, die Stimmungen verdichtet und Körper plastisch hervortreten läßt.
Und nun “die Reise” – die gebannte Trostlosigkeit einer durch Unsicherheit geprägten Welt in einem schmalen Buch. Die graue Stadtlandschaft, eintönige Straßen mit schattenhaften Gestalten, kahle Felder und Berge. Keine belaubten Bäume, keine Blumen. Ganz gewiß hört man hier kein Lachen, keinen Gesang und Glockenklang.
 
“Drei Männer kommen”, sagt/schreibt Waechter. Sie lösen sich langsam aus dem Dunkel einer Bahnunterführung. Das Umschlagbild zeigt sie klein und schwarz auf einer Eisenbahnbrücke. Dunkle Hüte tragen sie und dunkle Mäntel. Was wollen sie? Sie handeln in einem Auftrag.
Wer je in einem rechtlosen Staat gelebt hat, kennt die bleierne Drohung des Abgeholtwerdens. Anklopfen oder Klingeln in der Frühe. Kurzer Befehl: “Mitkommen!”
Hier fragen drei Männer nach einem Kind. “Die Tante sagt: Die Onkels bringen dich zu deiner Mama.” Das Kind folgt. Es will zu seiner Mama. Bei der Tante ist es langweilig. Außerdem gibt es keine Wahl.
Und nun ziehen sie die tristen Straßen entlang, vorbei an häßlichen, geduckten Häusern, über endlose Felder hinweg in die Berge. Die Realität verliert sich – nur in der Handlung, nicht in der Darstellung! -, und es geschieht, was sich das Kind vorstellt. Ein Löwe frißt Mann Nr. 1, ein Lastwagen rammt Mann Nr. 2, und Mann Nr. 3 stürzt ganz einfach in die Tiefe.
Das Kind klettert in der Ödnis der kahlten Bergwelt auf einen Gipfel und klammert sich an die Felsspitze.
 
“Da sehe ich die herrliche Stadt. Vom höchsten Turm ruft ein Wächter meinen Namen. Ein Luftschiff kommt mich zu holen.”
Wir sehen nichts. Der Traum des Kindes bleibt uns verschlossen.
Das letzte Bild zeigt die steinerne Bergwelt, der Gipfel ist leer. Wer die Augen anstrengt, entdeckt am bleigrauen Himmel ein winziges Luftschiff. Ein Hoffnungsfunken? Gar Verheißung?
 
Dieses Buch fängt vieles ein, was uns bedrückt, ja, lähmt. Die Welt birgt schreckliche Gefahren; sie können Lebensangst produzieren. Ausweglose Situationen allenthalben.
Ach, wenn wir dann einen Gipfel erreichen könnten! Und dort “die herrliche Stadt” sähen, die goldene Zukunft! Und eine Stimme riefe unseren Namen! Wer wünschte sich das nicht als Zusage der Erlösung? …
 
 
Lesen Sie morgen an dieser Stelle Teil 2 (von insgesamt 10) der neuen Serie von Joachim Klinger