Neue Rituale und Umgangsformen

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Neue Rituale und Umgangsformen
 
Wenn der Teller nicht leer gegessen wird, gibt es am nächsten Tag kein schönes Wetter.“
  Solche Allgemeinplätze können nicht der Grund sein, den versalzenen Rosenkohl auf Mailänder Art aufzuessen, und auch der selbstbewußte Mailänder Koch steht lieber im Regen, als sich durch solche dubiosen Wettervoraussagen in seinen Kochkünsten beeinträchtigen zu lassen.
  So oder so. Nach einem gelungenen Essen ist es an der Zeit, den kulinarischen Zauberkünstlern zu huldigen. Manche Gäste glauben durch üppige Trinkgelder ihre Schuldigkeit getan zu haben, aber mundete der sizilianische Wein in seiner Trockenheit und Kühle nicht zu sehr dem Gaumen? Weinten wir nicht zu den Klängen von Al Bano und Romina Power, die so selbstlos von ihrer Liebe sangen, und grunzten wir nicht vor Befriedigung, als wir die Röhrennudeln schlemmten, die so unschuldig zwischen klein gehackten Zucchiniund Auberginenherzen trieben?
  Wurden wir nicht mit „Dottore“ und „La bella Costola“ begrüßt und glauben nun, uns dieser Atmosphäre entziehen zu können durch ein läppisches Trinkgeld, und geben statt 38 Mark 40 pingelige 40 Mark 20 und sagen: „Stimmt so.“ Nein, dies stimmt nicht so.
  Müßten wir nicht beherzt aufstehen und dem Speisenbringer unsere Hand entgegenstrecken und bewundernd sagen: „Geld ist nicht alles, Signore. Hier, nehmen Sie meine Hand. Diese Hand hat heute noch Kinder gestreichelt, Frauen zum Abschied gewunken und Autofahrergrüße erwidert.“
  Hinterlassen wir doch ehrerbietig etwas Persönliches. Etwas, welches treu an uns erinnert. Hinterlassen wir einen Schuh. Vielleicht einen roten, weil Rot die Farbe des Wiederkommens ist.
   Hinterlassen wir einen Ehepartner, ein rot gewordenes Eheanhängsel, als kleine Aufmerksamkeit, als besondere Erinnerung, als Hilfe für den Koch. „Hier nehmen Sie meine Frau. Sie heißt Gudrun und hat es gerne, wenn man kuscht!“ Sollten wir nicht nach dem Essen laut aufschreien? Uaaaaah! So laut aufschreien, daß der Koch in der Küche erschrocken zusammenfährt und gesteht: „Mamma mia, ich habe mich schon wieder übertroffen!“?
   Könnten wir uns nicht die Kleider vom Leibe reißen? Wie es in alten Kulturen bei Schmerz- und Freudebekundungen oft gehandhabt wurde, als Ausdruck der Sprachlosigkeit.
   „Wir zeigen uns nackt und bloß, da Sie uns mit Ihrer Gastfreundschaft beschämt haben.“
   Bedenken Sie den Werbeeffekt, wenn alle Gäste nackt durch die Türe in die Nacht enteilen. Oder als größte Unterwerfung unserer satten Dankbarkeit: Geben wir uns auf! Geben wir uns selbst! Legen wir uns auf den Tisch als gereiftes, menschliches Trinkgeld.
   Denn der gut gekühlte trockene Wein, die Herzensmusik von Al Bano und Romina Power, die kleingehackten Zucchini- und Auberginenherzen inmitten der Röhrennudeln haben uns so verändert. Wir wollen uns legen in die Hände dieses Koches, dieses Speisenbringers und von Al Bano und Romina Power und besonders in die Hände von Romina Power. Wir kamen als Hungrige und wurden zu Menschen. Wir wollen wiederkommen dürfen. Ja, stimmen Sie mit ein in diesen Sprechgesang: Wir wollen wiederkommen dürfen! Wir wollen wiederkommen dürfen! Wir wollen wiederkommen dürfen! Bitte!
 
 
 
© Erwin Grosche - Veröffentlichung aus "Lob der Provinz" mit freundlicher Erlaubnis