Nichts für Spanner

„Anna Nicole“ von Mark-Anthony Turnage - Meisterwerk und Meilenstein zeitgenössischen Opernschaffens

von Peter Bilsing

Foto © Thomas M. Jauk / Stage Pictures
Anna Nicole
Meisterwerk und Meilenstein
zeitgenössischen Opernschaffens
 
Premiere von Mark-Anthony Turnages Geniestreich
an der Dortmunder Oper
am 27.4.2013
in Anwesenheit des Komponisten

 
„Anna Nicole Smith ist nicht nur eine dumme Blondine. Ihr Leben berührt so viele Dinge, es scheint fast das 21. Jahrhundert in sich zu vereinen.“
(Mark-Anthony Turnage. Komponist)
 
 
Musikalische Leitung: Jac van Stehen - Inszenierung: Jens-Daniel Herzog - Bühne: Frank Hänig - Kostüme: Sibylle Gädeke - Choreinstudierung: Granville Walker - Fotos: Thomas M. Jauk / Stage Pictures
Besetzung: Anna Nicole: Emily Newton - Virgie, ihre Mutter: Katharina Peetz - Shelley: Anke Briegel
Melissa: Tamara Weimerich - Billy: Gerardo Garciacano - Doktor, Mayor: John Zuckerman
Marshall: Ks. Hannes Brock - Howard Stern: Morgan Moody - Larry King, Trucker: Christoph Strehl - Deputy Mayor, Patron, Runner: Christian Henneberg - Daddy Hogan: Sangmin Lee - Daniel: Georgios Iatrou - Aunt Kay: Susanna Frank - Drag Queen: Carl - Kaiser, Henry Lankester, Christian Pienaar, Edward Steele - Mit den Dortmunder Philharmonikern, dem Opernchor des Theaters Dortmund und der Statisterie des Theaters Dortmund
 
Mit dieser erst zweiten Produktion über das Leben eines Glamour-Girls mit der Riesenoberweite Doppel D ist dem Intendanten der Dortmunder Oper, der auch selber Regie führt, ein echter Coup gelungen. Keine Oper für Spanner und Pornographen, denn Mark-Anthony Turnage geht das Thema zwar humorvoll aber auch ausgesprochen nüchtern und gesellschaftskritisch an; darüber hinaus zeichnet er ein äußerst fragwürdiges Bild Amerikas. Die Wahrheit über den „American Dream“ (vom Tellerwäscher zum Millionär) ist differenziert betrachtet, oft leider bitterböse und deprimierend.
 
Once upon a time
 
Eine kurze biografische Betrachtung des tragischen Lebenswegs der realen Anna-Nicole Smith, der revueartig im Inhalt der Oper widergespiegelt wird, ist unerläßlich: Am 28. November 1967 wird Vicki Lynn Hogan in der Provinz in Texas (Mexia) in armseligen, bald zerrütteten Familienverhältnissen geboren. Schon früh vaterlos heiratet sie mit 17, schwanger, den gleichaltrigen Billy Smith; einer deprimierenden Jugend folgt ein noch deprimierenderes frühes Erwachsenenleben. Natürlich zerbricht die Ehe schnell, und Vicki versucht den familiären Lebensunterhalt als alleinerziehenden Mutter erst als Kellnerin, dann in einer Oben-ohne-Bar in Houston zu verdienen. Dort nennt sie sich „Anna Nicole“.
Der karge Lohn einer nicht mit Übermaßen ausgestatteten „Tänzerin“ bringt sie in die Fänge eines miesen Schönheits-Chirurgen, der ihr Silikon für Körbchengröße Doppel-D implantiert. Der Erfolg einer Blondine mit solchem Monsterbusen stellt sich in Amerika schnell ein.


Foto © Thomas M. Jauk / Stage Pictures
1993 wird sie „Playmate des Jahres“ und bekommt sogar ihre erste kleine Film-Nebenrolle in Hollywood (Die nackte Kanone 33 1/3, 1994), der ihr immerhin den Anti-Oscar, die Auszeichnung „Goldene Himbeere“ als schlechteste Newcomerin des Jahres, einbringt. Gleichzeitig heiratet sie den 63-jährigen Ölmilliardär J. Howard Marshall. Als der nach schon einem Jahr stirbt, muß sie feststellen, daß er sie nicht im Testament bedacht hat. Danach macht sie weniger durch weitere kleine Filmröllchen noch durch publicityträchtige Prozesse um das Erbe, sondern eigentlich nur noch durch ihre Party- und Drogenexzesse auf sich aufmerksam.
Das amerikanische Schmuddel-TV offeriert 2002 der extrem voluminös Aufgeschwemmten Hundeliebhaberin eine Trash-Sendung (Anna Nicole Show) die den US TV-Pöbel durch peinliches Benehmen mit durchaus bemerkenswerten Quoten zuschalten läßt. 2004 kommt ihre Tochter zur Welt, um deren Vaterschaft sich gleich fünf Männer streiten. Vicky Lynn Hogan stirbt am 8. Februar 2007 in einem Hotelzimmer an einer („versehentlichen“) Überdosis von Medikamenten- und Drogenmix, wie ihr Sohn schon ein Jahr vorher.
 
Zur Musik
 
Weise Worte zur anspruchsvollen Musik hatte, der bei der UA im Orchester mitspielende der Gitarrist von Led Zeppelin, John Paul Jones: „Ich glaube, junge Leute wissen nicht, was die Oper alles bietet. Die Musik ist aufregend, amüsant, hat Seele, ist einfach extrem mitreißend. Aber man muß hinhören. Das ist nicht unanstrengend. Genauso muß man sich auch mit einem Buch auseinandersetzen.“
Mark-Anthony Turnage ist einer der profiliertesten englischen Komponisten. Wir hören ein Musik-Kaleidoskop, in dem viele musikalische Tendenzen des 20.Jahrhunderts hörbar werden und wo neben jazzigen, rockigen und poppigen Klängen auch Janacek, natürlich Britten und andere hörbar werden, ohne daß diese wirklich grandiose und aufregend mitreißende Musik ihre Eigenständigkeit verliert. Neben dem klassischen Orchester läßt Turnage auch E-Gitarre, E-Bass, Banjo, Saxophon, großes Schlagzeug und Big-Band-Sound wirken.
Besser als der Regisseur Jens-Daniel Herzog kann man es kaum formulieren „Turnages Musik hat den größten Anteil daran, daß die zweistündige Handlung nie ins Stocken gerät. Sie zieht alle Register. Zeitgenössische Kompositionstechniken stehen neben den uramerikanischen Musik- und Theaterstilen wie Pop, Jazz und Musical. Eine unglaublich lebendige kraftvolle Musik, mit großen Chören, die immer wieder, wie im klassischen Oratorium oder der griechischern Tragödie, uns selbst als Zuschauer des dramatischen Geschehens spiegeln.“
Jac van Steen leitete und koordinierte die unterschiedlich verteilten Mitglieder des Orchester-Ensembles der Dortmunder Philharmoniker bestens. Da der Chor einen wichtigen Anteil am großen Erfolg hatte, muß auch Grannville Walker (Ltg.) dickstes Lob gezollt werden und dem auch darstellerisch tollen Einsatz der Damen und Herren ein lautes „Bravi“ vom Kritiker! Die aufwendige Bühne (Frank Hänig) und die überzeugenden Kostüme (Sibylle Gädeke) schließen den Kreis einer lückenlos gelungenen meisterlich produzierten nachhaltig in Erinnerung bleibenden tollen Opernaufführung.


Foto © Thomas M. Jauk / Stage Pictures
 
Ganz große Oper
 
Letztlich steht dieses Meisterwerk des 21. Jahrhunderts durchaus in der großen Operntradition der Werke moralisch oder besser unmoralisch gefallener Frauen, wie z.B. Traviata, Lulu oder Manon. Neben der Tragik gibt es allerdings bei Turnages Werk immer wieder komische auch ironische Elemente (wenngleich das ein Amerikaner ggf. anders sehen wird), die u.a. auch in der Erzähltechnik liegen. Die Oper beginnt mit einer Beerdigungszeremonie und endet auch wieder in selbiger. Anna entsteigt quasi ihrem Grab - hier Leichen- und Operationstisch zugleich - und erzählt ihre Geschichte in vielen kurzen Szenen, wobei sprachlich und stilistisch sich das Ganze (fabelhafte Übersetzung in Übertiteln) natürlich nicht in der Alliteration eines Richard Wagner ausdrückt, sondern eher in seiner Drastik und Vulgarität an Henry Valentine Miller erinnert, was offenbar einige ältere Herrschaften schon zu frühzeitigem Verlassen des Dortmunder Opernhauses nötigte, barsch verärgert, daß die Musik eben nicht wie von Verdi klang.
 
Gesanglich höchster Anspruch
 
Was die superbe und geradezu fabulöse Amerikanerin Emily Newton (Anna Nicole) an gesanglichen Höchstleistungen - egal ob dauerhafte Spitzentöne oder sogar Koloraturen! - stemmte, ist in Worte nicht zu fassen. Der Komponist verlangt (ähnlich Lenny Bernstein in der Bravourarie „glitter and be gay“) von seiner Protagonistin das Leistungspotential einer Isolde-, Elektra-, Traviata- und Lulu-Stimme zugleich - nur nicht über knapp sieben Minuten, sondern für, nur durch eine kurze Pause unterbrochene, geschlagene zwei Stunden. Frau Newton muß in jeder Szene präsent sein und auch umfangreich singen. Das ist wirklich der sängerische Wahnsinn, und so wurde diese unglaubliche Gesangesleistung neben finalen Jubelchören des fachkundigen Publikums auch (endlich mal zurecht!) durch von Herzen kommende echte Stehende Ovationen geehrt.
 
Aus dem fabelhaften Riesenpotential der weiteren Künstler möchte ich Katharina Peetz (Virgie) und Hannes Brock (H. Marshall II, im Rollstuhl) noch herausheben - erstere wegen ihrer großen gesanglichen und letzteren wegen seiner genialen darstellerischen Fähigkeiten. Beide fand ich erheblich besser, als die Londoner UA-Besetzung, von der es eine bemerkenswerte DVD gibt bzw. viele Auszüge sind auch bei Youtube einseh- und hörbar.
 
Fazit „Bravo“
 
Ein großer, auch zeitgeschichtlich, bemerkenswerter Opernabend auf Weltklasse-Niveau, dem wir nach Rücksprache mit zwei weiteren hochbegeisterten Opernfreund-Kritikern unseren raren und begehrten Opernfreund-Stern verleihen. Es ergeht ein herzliches „Bravissimo“ an alle Beteiligten und die Dortmunder Oper.
 
„Eine amerikanische Passion - Der Körper von Anna Nicole Smith wird zum Schlachtfeld einer neoliberalen Ökonomie.” (Jens-Daniel Herzog, Regisseur)
 

Übernahme dieser Opern-Kritik mit freundlicher Erlaubnis von "Der Opernfreund" - Redaktion: Frank Becker
Auf Youtube: www.youtube.com/watch

Weitere Informationen: www.theaterdo.de