Ein Heimat-Roman

Annika Scheffel - „Bevor alles verschwindet“

von Jörg Aufenanger

Jules und Jula
„Bevor alles verschwindet“
Annika Scheffels zweiter Roman
 
Einen Heimatroman dieses Buch zu nennen, scheut man sich, hat doch dieses Genre einen abgeschmackten Ruch. Aber es geht in diesem zweiten Roman der 1983 geborenen Annika Scheffel um die Heimat im engsten und tiefsten Sinn und um ihren langsamen aber stetigen Verlust. Verschwindet mit ihr nicht nach und nach alles, wie der Romantitel andeutet?
 
Über dem nicht benannten Fünfhundertseelenort liegen Bedrohung und Ahnung, seitdem er vor Jahren von fremden Männern vermessen wurde. Aber wie man sich an den fernen Weltuntergang gewöhnt, hat ein jeder sich eingerichtet, wenn auch insgeheim verstört von der möglichen Nichtzukunft. Eines Januarmorgens dringen zwei Männer in Schwarz in den Ort ein, fahren die fast blinde Mona an, die eine Blutung am Kopf davon trägt. Doch nicht das Wort Blutung, sondern Flutung bestimmt von diesem Tag an das weitere Leben. Die Poseidon (sic!)-GmbH wird eine Talsperre bauen. Das Dorf soll abgerissen werden und im Wasser verschwinden. An alle Häuser wird wie von Geisterhand ein roter Strich angeschmiert, die Bewohner versuchen, die Farbe wegzuwischen, doch sie verschwindet nicht. Unrettbar verloren die Heimat? Widerstand? Aber wie? Der ehrenamtliche Bürgermeister Wacho hat andere Sorgen, seit Jahren wartet er auf die Rückkehr seiner entflohenen Frau und wacht darüber, daß sein Sohn David nicht auch das Weite sucht.
Annika Scheffel versammelt im Dorf und in ihrem Roman ein kunterbuntes Gemisch von Menschen, die alle eine liebenswerte Macke haben, und daher so lebendig sind, selbst in ihrer Passivität gegenüber der Bedrohung. So das symbiotische Zwillingspaar Jula und Jules, Mona, die vermeintlich Dorfirre, Marie, die Tochter des Dorfschauspielers Robert, die immer einen blauen Fuchs herumstreifen sieht. Und da ist noch Milo, ein plötzlich aufgetauchter Fremder, der hinter dem Friedhof in einer Hütte haust und in den sich Wachos Sohn als Versprechen einer anderen Welt vernarrt hat, der womöglich nur ein Gespinst ist. Wie ein Märchen aus einer anderen Zeit erzählt Scheffel diese kleine Welt, sowohl im Ton als auch in den oft phantastischen Geschichten, die sie ihren Figuren anhängt.
 
Ihr erster Roman „Ben“ war noch im winzigen aber so regen Kookbooksverlag erschienen, nun hat Suhrkamp sie an der Angel, promotet sie als kommenden Literaturstar. In „Ben“ hatte sie ebenfalls ein modernes Märchen erzählt und dafür eine eigene Sprache, fast eine Kunstsprache entwickelt. Auch dieser zweite Roman besticht durch eine Lust an der Sprache, zu der sich die des Fabulierens gesellt. Wunderbare Passagen gelingen, die durch Sprachwitz geprägt sind, wobei die Autorin besonders der kleinen Marie Sätze in den Mund legt, die in ihrer Lakonie sowohl Humor als auch tiefere Bedeutung transportieren. Und doch wird die Lektüre allmählich zäh, was daran liegt, daß Scheffel sich auf die reine Chronologie der Ereignisse verläßt, die Erzählrhythmus lähmt.
Die Übriggebliebenen im Dorf werden weniger, einer nach dem anderen verläßt es, fällt auf die Werbebroschüre der Poseidon GmbH herein, die den Umgesiedelten eine wunderbare neue Welt in einem Ort mit schmucken Häusern am künftigen See verspricht. Nach der Flutung. Widerstand regt sich kaum, nur die „irre“ Mona packt die Wut, Jules und Jula hecken einen Sabotageplan gegen die Flutung aus. Doch werden sie diese verhindern können?
 
Erst in der Engführung der Erzählung nimmt der Roman wieder Schwung und Schärfe auf. Die gelbbehelmten Bauarbeiter haben die Häuser abgerissen, bereiten die Flutung vor, die „letzten Mohikaner“ verschanzen sich im Rathaus. Werden sie mit dem Dorf untergehen? Jula begeht einen Verrat, sie verliebt sich gegen ihren Zwillingsbruder in Anton, einen der Gelbhelme, der Federn am Körper trägt, eine der phantastischen Zutaten der Geschichte.
Annika Scheffel hat fraglos innerhalb der jungen Literaturszene einen eigenen Ton gefunden, doch eine entschiedenere Dramaturgie hätte nicht nur durch Variationen ihres Erzähltons die Spannung erhöht, sondern damit aus dem Buch einen überzeugenderen Roman machen können.
 
 
Zuerst erschienen in Frankfurter Rundschau/Berliner Zeitung
 
 
Annika Scheffel – „Bevor alles verschwindet“ - Roman
© 2013 Suhrkamp Verlag, 411 Seiten, Gebunden, ISBN: 978-3-518-42354-7
D: 19,95 € - A: 20,60 € - CH: 28,50 sFr
 
Weitere Informationen: www.suhrkamp.de