Spurensuche
Das Bauhaus in Indien
Die Stiftung Bauhaus Dessau erinnert an eine außergewöhnliche Ausstellung des Jahres 1922
Ergebnislose Nachforschung
Im Rahmen meiner Recherchen im Bauhaus-Archiv in Berlin stieß ich vor Jahrzehnten auf einen interessanten Brief von Hans M. Wingler, dem Gründer und langjährigen Direktor dieses bedeutenden Forschungs- und Ausstellungsinstituts, den er an das Auswärtige Amt in Bonn gerichtet hatte und in dem er um Unterstützung bei der Suche nach Arbeiten von Bauhaus-Lehrern und -Schülern bat, die 1922 in Kalkutta gezeigt worden aber nie nach Deutschland zurückgekehrt seien. Meines Wissens blieb diese Anfrage ergebnislos. Näheres über eine Bauhaus-Ausstellung in Indien war nicht zu erfahren, die fraglichen Arbeiten mußten als verschollen gelten. Dies war auch die Überzeugung von Anneliese Itten, der zweiten Frau des Bauhaus-Künstlers Johannes Itten, die 1983 auf dem Symposium „Ist die Bauhaus-Pädagogik aktuell?“ (Universität Essen in Zusammenarbeit mit dem Josef Albers Museum in Bottrop) daran erinnerte, man habe „in großen Kisten die Arbeiten des Vorkurses“, also aus dem propädeutischen Bauhaus-Unterricht, nach Indien geschickt, „auch viele Arbeiten der Meister, unter anderem 23 Werke von Itten. [...] Bis heute scheint dies alles verloren und das ganze nicht mehr rekonstruierbar.“ Ich habe mich ab und zu gefragt, ob dieses kleine, aber doch spannende Kapitel der Geschichte des frühen Bauhauses damit endgültig ad acta gelegt worden sei. Keineswegs, wie nun eine Sonderausstellung in den Räumlichkeiten des 1925/26 nach Entwürfen von Walter Gropius in Dessau errichteten, 1996 in die UNESCO-Weltkulturerbeliste aufgenommenen und vorbildlich restaurierten Bauhaus-Gebäudes zeigt. Indien auf der Suche nach kultureller Identität
Im späten 19. Jahrhundert regten sich in Indien starke politische Kräfte, die für die Befreiung des Landes von der britischen Kolonialherrschaft eintraten. Schon während des Ersten Weltkriegs erklärte die britische Regierung, Indien den allmählichen Übergang zur Selbstregierung zu ermöglichen, doch
Kalkutta, Dezember 1922
Mag sein, daß Rabindranath Tagore auf seiner ausgedehnten Europareise des Jahres 1921 Kenntnis vom Bauhaus erhielt – persönlich ist er, entgegen mancher Legende, dort allerdings nicht gewesen.
Indienbegeisterung am Bauhaus
Angesichts der Katastrophe des 1. Weltkriegs hatten sich in Deutschland nach 1918 Strömungen etabliert, die durch einen dezidiert anti-rationalistischen Affekt auffielen. Intellektuelle und Künstler waren von der utopischen Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, ja eine bessere Menschheit, beseelt. Für sie war die Bereitschaft und Fähigkeit zur Besinnung, zur Umkehr, ja zur gezielten Regression die Bedingung der Möglichkeit von „Fortschritt“. Mystisches Schauen und Erleben, teilweise durch okkulte Lehren grundiert, sollten den Platz zweckrationaler Erkenntnis und positivistischen Denkens einnehmen; angestrebt war das, was Konrad Farner als „Heilung durch den Geist“ beschrieben hat. Derartige Tendenzen waren auch am frühen Bauhaus populär, einem Institut, das anfänglich keineswegs eine Kaderschmiede des Funktionalismus war, sondern Ort einer Neuen Spiritualität im Verein mit der Vision eines Neuen sozialen Humanismus. Im Jahr 1921 war im Utopia-Verlag Weimar eine Publikation mit dem Titel „Utopia. Dokumente der Wirklichkeit“ erschienen, die geradezu als Programm dieser Sehnsucht nach Heilung durch den Geist gelesen werden kann.
Neben dem zentralen Beitrag „Analysen alter Meister“ von Johannes Itten enthält diese Publikation Materialien, die im Rückgriff auf die Weisheit und Welterkenntnis früherer Epochen, vor allem der Gotik, sowie außereuropäischer Kulturen, auf deren mystische Glaubenslehren, Denkfiguren und Bildvorstellungen, eine „Neue Geistigkeit“ beschwören sollten. Dazu gehörten unter anderem etwa der Schöpfungshymnus aus der altindischen Rigveda ebenso wie die fotografische Aufnahme des indischen Grabtempels des Huth Sing in Ahmedabad. Daß es am frühen Bauhaus in Weimar eine regelrechte Indienbegeisterung gab, zeigt die Rede, die Walter Gropius im Mai 1919, also unmittelbar nach der Gründung der Schule, hielt und in der er staccatoartig ausrief: „Bauen! Gestalten! Gotik – Indien!“ Indien wurde manchem Bauhäusler zum – romantisch verklärten – Synonym für Ursprünglichkeit, zivilisatorischer Unverbrauchtheit und Spiritualität, und es ist kein Zufall, daß im Oktober 1921 der Inder Murshid Inayat Khan, Musiker, Dichter und Philosoph, am Bauhaus sang und sprach. Gleichwohl dauerte der „Indienkult“, wie Oskar Schlemmer bemerkte, nicht allzu lange an. Mit der Devise „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ vollzog Gropius 1923 den entscheidenden Kurswechsel weg vom spirituell und sozialutopisch orientierten Bauhaus der ersten Jahre hin zu einer pragmatisch und funktionalistisch agierenden Einrichtung, an der Prototypen für die Industrie entworfen und die Grundlagen dessen gelegt wurden, was heute allgemein als Design bezeichnet wird. Globalisierter Kunstbetrieb
Die sorgfältig erarbeitete Dessauer Ausstellung unternimmt den ambitionierten Versuch, alles das, was soeben nur andeutungsweise skizziert werden konnte, anhand von umfangreichem
Übrigens, was die vermeintlich verschollenen, 1922 in Kalkutta gezeigten Arbeiten anbelangt: Einer Notiz der Sekretärin des Bauhauses, Lotte Hirschfeld, ist zu entnehmen, daß sie am 23.4.1923 aus Kalkutta zurückgekehrt sind – mit einer einzigen Ausnahme, nämlich einem Aquarell einer Bauhaus-Studierenden, das in Rabindranath Tagore seinen Käufer gefunden hatte.
Das Bauhaus in Kalkutta
Stiftung Bauhaus Dessau - Gropiusallee 38 - 06846 Dessau - bis 30.06.2013
0340-6508250
Das Buch zur Ausstellung:
Regina Bittner/Kathrin Rhomberg (Hrsg.): Das Bauhaus in Kalkutta. Eine Begegnung kosmopolitischer Avantgarden
Verlag Hatje Cantz, 2013, 176 Seiten, mit zahlreichen SW- und Farbabbildungen, Broschur, ISBN 978-3-7757-3656-5, 29,80 €
Weitere Informationen: www.hatjecantz.de
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