Vom Singen und von italienischer Gesangstechnik (3)

Spelios Constantine zum Gedenken

von Ludwig Steinbach

Vom Singen und von
italienischer Gesangstechnik (3)
 
Spelios Constantine zum Gedenken
 

Wichtig ist, daß der Sänger sich nicht allzu lange außerhalb seiner angestammten Tessitura bewegt. Man kann drei Tessituren unterscheiden: Erstens die Tessitura der Partie, also die Lage, in der sich die Rolle vorwiegend bewegt. Zweitens die Tessitura der Stimme, das ist der Bereich, in dem diese ihren größten Glanz entfaltet. Drittens die persönliche Tessitura, worunter man den Stimmbereich versteht, in dem sich der Sänger persönlich am wohlsten fühlt. Diese drei Tessituren gilt es unter einen Hut zu bringen. Sie sind von Stimmlage zu Stimmlage verschieden. Am schwierigsten ist der Passaggio-Bereich, also der Übergang zur Höhe, zu bewältigen, weil hier beim Singen besonders viel Spannung aufgebracht werden muß. In dieser Lage befinden sich die Bruchtöne, die über die jeweilige Stimmlage des Sängers Aufschluß geben. Sopran und Tenor haben als Bruchton das ‚fis’, der Mezzosopran das ‚f’, Bariton und Alt das ‚e’ und der Baß das ‚d’. Indes gibt es auch Soprane mit dem Bruchton ‚f’, Tenöre mit dem Bruchton ‚e’ oder ‚f’ und Bässe mit dem Bruchton ‚es’. Wie ist das zu erklären?
 
Natürlich können sich Stimmen zu der jeweils höheren oder auch tieferen Stimmlage entwickeln, als es ihr Bruchton vermuten läßt. So waren z. B. Lauritz Melchior, Ramon Vinay, Ludwig Suthaus und sogar Placido Domingo zu Beginn ihrer Karriere Baritöne, bevor sie das Fach wechselten und zu weltberühmten (Helden-)Tenören wurden. Ettore Bastianini gelang der Sprung vom Baß zum Bariton ausgezeichnet. Die große Kirsten Flagstad und Gwyneth Jones begannen als Mezzosoprane und Martha Mödl scheint sogar fast aus dem Alt-Fach zu kommen. Baritöne wie Tita Ruffo, Piero Cappuccilli und Bernd Weikl verfügten über hohe ‚c’s, um die sie mancher Tenorkollege beneiden konnte.
 
Diese Beispiele zeigen, daß sich sowohl die Höhe als auch die Tiefe extrem entwickeln können. Das hängt damit zusammen, wie die Stimmbänder im Einzelfall beschaffen sind, ob sie robust und lang oder eher schmal und kurz sind. Ihre Beschaffenheit ist zudem von entscheidender Bedeutung dafür, ob der Sänger die nötige Kraft aufzubringen vermag, in die nächsthöhere Stimmlage zu wechseln. Der Bruchton indes ändert sich - jedenfalls unter Zugrundelegung immer derselben Stimmung - nie. Er bleibt fest an seinem Platz. E
 
Ein Bariton kann sich durchaus zu einem Tenor mit strahlenden Spitzentönen entwickeln, sein Passaggio-Bereich wird aber immer der eines Bariton sein. Daher kommt es, daß z. B. Wagners Tannhäuser, der nur bis zum hohen ‚a’ geht, vielen vom Bariton kommenden Heldentenören oft große Schwierigkeiten bereitet, weil die Tessitura dieser Partie im Passaggio des Baritons, also zwischen ‚d’ und ‚f’ angesiedelt ist. Ramon Vinay ist nur einer davon. Da sind solche Rollen schon leichter, die zwar häufig bis in die höchsten Spitzentöne der Tenorlage reichen, dann aber sofort in die Mittellage zurückfallen und sich die Stimme wieder etwas entspannen kann, was nicht der Fall ist, wenn sie sich ständig in der kräftezehrenden Übergangslage zur Höhe bewegen und darüber hinaus ständig heldentenorale Kraft und Attacke aufweisen muß.
 
Neben Wagners Tannhäuser kann hier als Paradebeispiel auch der Bacchus aus Richard Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ genannt werden, dessen beste Vertreter James King, Rudolf Schock und Jonas Kaufmann sind. Es muß das Anliegen jedes Sängers sein, seine persönliche Tessitura mit der Tessitura seiner Stimme in Einklang zu bringen. Dazu muß er trainieren, muß sich fordern, darf sich aber auch nicht überfordern. Wenn er sich ständig hohe und dramatische Töne abtrotzt und schweres Fach statt leichtem lyrischem singt, obwohl er entwicklungsmäßig noch nicht so weit ist, wird er seine Stimme schnell verlieren, ebenso wer denkt, er sei Tenor, obwohl er eigentlich ein Bariton ist. Um seine ursprüngliche Stimmlage zu ergründen, genügt eine simple Bruchtonanalyse.
 
Vor einiger Zeit war bei unseren Kollegen von „Opernwelt“ ein Artikel über einen Sänger zu lesen, den man fast immer für einen Tenor hielt und der diese Ansicht auch teilte, obwohl er in Wirklichkeit Bariton war und sich deshalb schließlich fast die Stimme kaputtmachte. Daß seine Stimmlage die eines Baritons war, hat man schließlich durch eine Stimmfeldanalyse festgestellt. Hier wurde durch die Medizin auf umständliche Weise geklärt, was eigentlich Aufgabe der Gesangspädagogik gewesen wäre. Diese ganze Prozedur hätte man sich auch sparen können. Es wäre völlig ausreichend gewesen festzustellen, wo der Bruchton dieses unglücklichen Sängers liegt.
 
Dieser gibt, wie bereits ausgeführt, eine verläßliche Auskunft über die Stimmlage. Der Bruchton besitzt die Eigenart, daß er Gesangssolisten oft mehr Schwierigkeiten bereitet als die Höhe. So kannte ich einmal einen Bariton, der blendend bis zum hohen ‚a’ herauf sang, aber mit dem ‚e’, also dem Bruchton seiner Stimmgattung, manchmal leichte Schwierigkeiten hatte. Das war insbesondere der Fall, wenn er indisponiert war. Da trat dieses Phänomen bei ihm verstärkt auf. Auch bei anderen Sängern konnte ich diese Beobachtung machen. Den Bruchton einer Stimme ausfindig zu machen, ist sehr schwer. Wenn man das aber einmal beherrscht, ist das die zuverlässigste Methode, die Stimmlage eines Sängers zu bestimmen, denn allein die Klangfarbe reicht dazu nicht immer aus. Diese kann nämlich trügerisch sein. Es gibt Tenöre, die sehr baritonal singen, aber auch Baritone, deren Stimme so hell ist, daß man sie glatt für einen Tenor halten könnte, wenn man es nicht besser wüßte.
 
In Mannheim war vor einiger Zeit regelmäßig ein Baß zu hören, der mit seinem hellen Timbre ausgesprochen tenoral klang. Ein Gesangspädagoge sollte in jedem Fall herauszufinden suchen, wo bei seinen Schülern der Bruchton liegt, um sie adäquat ausbilden zu können. Diese Fähigkeit hatten die Leute, die in dem oben beschriebenen Fall diese umständliche und eigentlich entbehrliche Stimmfeldanalyse vornahmen, augenscheinlich nicht. Jeder Gesangslehrer sollte sie aber haben, um seine Schüler in der ihnen gemäßen Lage zu fördern und sie nicht zu überanstrengen. Ständig zu hoch zu singen, kann die Stimme irgendwann einmal zum Absturz bringen. Andererseits ist es aber auch schädlich, permanent nur zu tief liegende Partien zu singen. Wenn beispielsweise ein hoher Sopran oft Rollen singen muß, die in der Tessitura eines Mezzosoprans angesiedelt sind, oder ein Tenor praktisch nur mit tief liegenden Partien seines Fachs betraut wird, besteht die Gefahr, daß sich die Stimme auf diese tiefere Tessitura einstellt und demzufolge an Höhe einbüßt.
 
Es gibt Rollen innerhalb desselben Stimmfachs, die vom Komponisten so notiert sind, daß sie eigentlich auch von der darunter liegenden Stimmgattung mühelos und oft sogar besser gesungen werden können. Es existieren aber auch Partien, die die Stimme herunterziehen können. Bei Tenören sind dies insbesondere Wagners Siegmund und Parsifal und Webers Max, bei Sopranen u. a. Strauss’ Ariadne. Dieser Gefahr sind sich die Interpreten oft gar nicht bewußt und reagieren entsetzt, wenn sie eines Tages bemerken, daß sie ihre Spitzentöne verloren haben und ihnen die Stimme immer mehr in den Keller rutscht.
 

Dieser Text erschien zuerst im Opernmagazin „Der Opernfreund“
Übernahme in die Musenblätter mit freundlicher Genehmigung.
Lesen Sie am kommenden Dienstag an dieser Stelle weiter!