Vom Singen und von italienischer Gesangstechnik (1)

Spelios Constantine zum Gedenken

von Ludwig Steinbach

Vom Singen und von
italienischer Gesangstechnik (1)
 
Spelios Constantine zum Gedenken
 


Warum ist eine solide Verankerung der Stimme im Körper unabdingbar?
 
Immer wieder haben meine Leser den Wunsch geäußert, daß ich ihnen erläutern möge, was es mit dem von mir propagierten italienischen Gesangsstil auf sich hat. Warum ist eine solide Verankerung der Stimme im Körper unabdingbar? Was hat es mit dem von mir oft erwähnten appoggiare la voce auf sich? Gerne erfülle ich ihren Wunsch und führe sie im Folgenden in die Geheimnisse des italienisch fundierten Singens ein. Auch aktiven Sängern kann die Lektüre vielleicht nützlich sein.
 
Zuerst ist der Frage auf den Grund zu gehen, was eigentlich das praktisch Bedeutsame an der italienischen Gesangsmethode ist. Die Antwort ist einfach: Nur sie macht die Stimme in jeder Lage voll und rund, sonor und ausdrucksstark. Nur mit ihr erreicht man beim Singen ein Maximum an Klangfülle und Substanzreichtum. Sie läßt zudem die meisten Obertöne mitschwingen. Sänger, deren Stimme in der Maske, im Kopf oder im Hals sitzt, werden nie die Strahlkraft erreichen, die italienisch geschulte Stimmen aufweisen. Dies sei an einer Reihe von Beispielen veranschaulicht:
 
So war in früheren Zeiten Wolfgang Windgassen, der Zeit seines Lebens stets ausgesprochen dünn sang und sich obendrein in ständigem Ausruhen auf den Konsonanten und Klingern gefiel, was ein Unding sondersgleichen und in keinster Weise akzeptabel ist, ein Schmalspurtenor ersten Ranges, der im Vergleich mit der stimmlichen Brachialkraft und dem vokalen Glanz eines Hans Hopf, der für mich den Inbegriff eines ausgezeichneten Heldentenors darstellt, gnadenlos verblassen mußte.
 
Der ungemein kopfig, manieriert und gekünstelt klingende, hochgestellte Bariton von Dietrich Fischer-Dieskau, der immer nur auf den Tönen gesprochen hat anstatt richtig zu singen, hatte in Wien gegenüber dem jungen Eberhard Waechter, der in seiner Glanzzeit über einen phantastisch fokussierten, frischen und kräftigen Bariton verfügte, keine Chance, genauso wenig wie Windgassen bei dem kritischen Publikum der Metropolitan Opera in New-York, das ihn nicht haben wollte.
 
Und wie sehr stellte doch die wunderbar warm, innig und gefühlvoll singende Elisabeth Grümmer ihre Kollegin Elisabeth Schwarzkopf, auf deren Vokalorgan die meisten bei Fischer-Dieskau eben genannten Attribute ebenfalls zutreffen, in den Schatten. Schwarzkopf, Fischer-Dieskau und Windgassen waren die meist überschätzten Sänger ihrer Ära, deren Leistungen absolut ungenügend waren und die den Geschmack einer ganzen Generation von Operngängern nachhaltig verdorben haben. Eine italienisch fundierte Singweise blieb ihnen, aber auch Piepssopranen wie Erna Berger, Erika Köth, Anneliese Rothenberger und Rita Streich, ihre ganze Karriere über fremd. Dabei sollte diese das A und O für jeden Sänger sein. Diese muß er sich unbedingt aneignen.
 
Was sind nun die Merkmale einer guten italienischen Technik?
 
Grundlage und absolutes Muß für jede Art von klassischem Gesang ist erst einmal, daß die Stimme im Körper verankert ist und ein solides appoggiare la voce aufweist. Ort der richtigen Stütze ist das Brustbein. Die Stimme muß gegen dieses angelehnt werden. Um zu diesem Punkt zu gelangen, ist bei jedem gesungenen Ton Gähnen extrem wichtig. Gähnen ist das Zauberwort, denn dadurch gelang der Kehlkopf in seine tiefste Stellung, was für einen vollen Stimmklang eine unerläßliche Voraussetzung darstellt. Während des Ausatmens auf dem Gesangston muß man das Brustbein nach innen ziehen, gleichzeitig aber eine winzige Gegenbewegung ausführen. Und das funktioniert so: Indem man das Brustbein einzieht, muß der Körperbereich links und rechts von ihm sanft nach vorne geschoben werden. Dabei kann die Vorstellung behilflich sein, daß einem die Brustwarzen herausgezogen werden. Hilfreich ist es weiter, wenn man dabei den Kopf ein wenig in den Nacken neigt, ähnlich wie man es bei Herbert von Karajan oft beobachten konnte. Diese Zuhilfenahme des Rückens ist zudem bei der Erweiterung des Höhenregisters eine große Unterstützung. Das für die italienische Technik unverzichtbare appoggiare la voce erreicht man mithin durch ständiges Gähnen. Das ist es, was die körperverankerte Stimme erst zu einer echt italienisch geschulten macht.
 
Diesen Aspekt kann man sich gut an Nina Stemme veranschaulichen. Sie singt insgesamt gut im Körper und intoniert auch warm und gefühlvoll, gähnt die Töne aber nicht an. Demzufolge vermag sich auch kein appoggiare la voce, kein italienischer Stimmfluß bei ihr einzustellen. Für Wagner mag ihre Stimme geeignet sein, aber nicht für Verdi. So ist sie z. B eine ausgezeichnete Isolde, als „Forza“-Leonore vermag sie indes nicht zu überzeugen.
 
Wesentlich für das appoggiare la voce ist ferner, daß man den Atem ruhig fließen läßt und die Luft nicht staut, wie es beispielsweise ein berühmter Tenor der Gegenwart früher häufig zu tun pflegte, wenn er piano zu singen hatte. Bei einer konzertanten Operngala 2009 in Baden-Baden verlegte er sich bei leisen Stellen zudem auf ein Pressen der Töne, was sich nachteilig auf die Klangqualität seines Vortrags auswirkte. Die Luft konnte nicht mehr frei fließen und seine Tongebung wurde fahl und klanglos. Die Anlehnung der Stimme ist auch und gerade bei leise zu singenden Stellen unbedingt erforderlich, damit sie nicht an Substanz verliert. Auch im Piano muß die Stimme bis in höchste Höhen im Körper sitzen und eine Gegenbewegung stattfinden. Dazu darf man nicht mehr als einen kleinen, zwanglosen Impuls geben, was wiederum durch leichtes Gähnen zu geschehen hat, und dabei nichts weiter machen wollen, denn sobald man bewußt etwas machen will, drückt man bereits auf die Stimme, was früher oder später schädliche Folgen nach sich ziehen kann.
 
Hohe wie auch tiefe Töne müssen auf einer gesund und ebenmäßig dahinfließenden Atemsäule wachsen und dürfen nicht erzwungen werden, sonst wird der Sänger das irgendwann einmal bereuen. Auch hierfür sei ein Beispiel genannt: Hört man sich historische Aufnahmen von Cesare Siepi an, so stellt man fest, daß die älteren die besseren sind. In diesen singt Siepi mit wunderbarer sonorer Frische, Tiefgründigkeit und Farbenreichtum. Dieser Eindruck relativiert sich bei den jüngeren Einspielungen, bei denen der Bassist auf einmal seltsam trocken wirkt. Hier hat die Stimme enorm an Klangpracht und Eleganz eingebüßt. Wie ist das möglich? Nun, die Antwort ist auch in diesem Fall nicht allzu schwer. Siepi war von Natur aus ein hoher Baß, ein Basso cantate, der wie geschaffen war für den Don Giovanni, seine Paraderolle. Siepi ignorierte aber die etwas höhere Tessitura seiner Stimme und drängte nachhaltig in das Fach des tiefen Basses, des Baßo profundo, was der natürlichen Anlage seines Vokalorgans aber nicht entsprach. Er versuchte, sich das extreme Tiefenregister mit Gewalt anzueignen, und drückte zu diesem Zweck in diesem Bereich stark auf die Stimme, was natürlich Folgen hatte. Sie verlor an Schönheit und nahm zunehmend den trockenen Klang an, den man auf den neueren Aufnahmen hört. Siepi wollte seine Stimme zwingen, worauf diese einen irreversiblen Schaden davontrug. Er dachte, er müsse etwas tun, um deren Qualität zu steigern, hätte aber ganz im Gegenteil gerade überhaupt nichts tun müssen.
 
Gerade dieses Nichts-machen-wollen ist es, was die Stimme auf Dauer gesund und frisch hält, ist aber auch dasjenige Wesensmerkmal der italienischen Technik, das am schwierigsten zu erlernen ist. Je weniger man tut, desto größer und voluminöser wird die Stimme. Daß man beim Singen viel machen und sich groß anstrengen muß, ist mithin ein weit verbreitetes Mißverständnis. Sängern, die beim Singen nur auf reinen Kraftaufwand setzen, ohne technisch versiert zu sein, rutscht die Stimme oft in den Hals und wird - oft sehr - schrill. Dann wird nicht mehr gesungen, sondern nur noch geschrieen, gestoßen, gejault und geblökt.
 

Dieser Text erschien zuerst im Opernmagazin „Der Opernfreund“
Übernahme in die Musenblätter mit freundlicher Genehmigung.
Lesen Sie am kommenden Dienstag an dieser Stelle weiter!