Rhein und wahr (Allerlei um Kaffee und Kuchen)

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Allerlei
um Kaffee und Kuchen

15. April: In der Bäckerei Zarnitz wurden „prall gefüllte Berliner“ angeboten. Ich dachte nach. War es denn so erstrebenswert, daß ein Berliner prall gefüllt ist? Nach einem herzhaften Biß spritzt die Marmelade oft unkontrolliert heraus und besudelt Genießer und Umgebung. Ich, um das noch mal deutlich klarzustellen, habe nichts gegen Marmelade in Berlinern. Im Gegenteil, Berliner sollten durch eine Füllung das Geschmackserlebnis steigern, aber alles hat seine Grenzen.
 
19. April: Gestern schaffte ich es, in dem bereits ablaufenden Spülwasser noch eine sehr spät eingereichte Kaffeetasse mit Unterteller und Umrührlöffel zu spülen. Das gelingt natürlich nicht immer, macht aber stolz und demütig.
 
20. April: Das letzte Tortenstück: Das letzte Tortenstück zu essen, hat einen besonderen Reiz. Manche Tortengenießer warten bewußt auf diese Chance. Sie verfolgen das letzte Einhorn mit Habichtsaugen und erkennen schon vor dem Verschwinden der anderen Tortenstücke dessen Auserwähltsein. Sie erahnen Stellung und Wirkung. Was tun sich diese Menschen an? Sie bleiben bewußt in Wartestellung und rühren vorher nichts an, was im Entferntesten einer Torte ähneln könnte. Natürlich wird ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt, aber genau dieser Umstand erhöht das Verlangen nach dieser letzten Schnuckerei. Es kommt, wie es kommen muß. Irgendwann steht nur noch ein Stück vergessen und ohne Halt auf dem Tortentablett. Nun geht der Tortengenießer zum Angriff über. Er fragt nebenbei, scheinbar opferbereit, ob noch jemand an diesem letzten Stück Torte Interesse hätte. Er macht es klein und unbedeutend, als wäre dieses Buttercremewunder ein langweiliger Film, der ohne Ton im Hintergrund herumläuft und überflüssig ist wie Body Painting. „Wer will denn noch dieses abgestandene Tortenstückchen essen, welches wie ein ausgeleiertes Haargummi auf dem Esstisch klebt und entsorgt werden sollte, bevor die Köche wieder den Abendbrottisch decken wollen?“ Sollten diese Herabstufungen und ausgefuchsten Verschleierungen die Anwesenden überzeugt haben, opfert sich scheinbar der Tortengenießer um dieses Backwunder zu retten. Da tritt der Mensch als selbstlos auf und kümmert sich um alle zu kurz gekommenen. Dieses fast unfreiwillige Einlassen, dieses sich Hergeben für eine gute Sache stimmt auch den Kaloriengott gütig, und der vollkommene Tortengenuß ist ein übrig gelassener Rest. Laß den anderen das Schlaraffenland und das Paradies, konzentrier du dich auf die Reste. Sie haben ihren eigenen Reiz. Iß sie mit den Fingern. So entscheidet man sich auch für eine Frau und einen Mann. Nimm ihn, den niemand haben wollte. Nimm sie, die übrig blieb. Nimm die Reste. Sie werden sich dir mit Haut und Haaren hingeben. Die schwersten Zeiten habt ihr schon hinter euch, wenn ihr euch füreinander entscheidet.



© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker