Nordrhein-Westfalen

Versuch einer Charakteristik

von Konrad Beikircher

Foto © Frank Becker
Nordrhein-Westfalen

Versuch einer Charakteristik
 
Alles schön und gut, aber weiß außer uns hier in NRW überhaupt jemand, worin die wahre Größe unseres Landes besteht? Nordrhein-Westfalen, Herrschaften, ist die Wiege Europas, mehr noch: ein Europa im Kleinen und damit das Modell dafür, daß es geht!
Wo in anderen Bundesländern ethnische Öde vorherrscht: in Hessen gibt’s nur Hessen, in Mecklenburg-Vorpommern nur Mecklenburg-Vorpommern, im Saarland nur Saarländer, in Bremen nur Bremer, oder, um den Kreis weiter zu ziehen: in Liechtenstein gibt’s nur Liechtensteiner oder in Luxemburg nur Luxemburger, von den anderen Ländern ganz zu schweigen, so war das in Nordrhein-Westfalen immer schon anders. Hier haben sich Rheinländer, Niederrheiner, Selfkanter, Nordeifeler, Sauerländer, Bergische, Siegerländer, Revierkumpels, Lipper, Münsteraner und Ostwestfalen - um nur die wichtigsten zu nennen - im Rahmen einer gigantischen Wohngemeinschaft zu einer Einheit zusammengeschmiedet, die weltweit einmalig ist. Diese Gegensätze! Diese Harmonie!
Hätte man Basken, Elsässer, Bretonen und Schotten zusammengepfercht, es wäre nichts gegen das Gemisch, das wir aufzuweisen haben. Aber: in Nordrhein-Westfalen funktioniert es und zwar ohne in einer Legierung zu verschmelzen, in der jede Eigenart der Einzelelemente aufgehoben wäre zugunsten eines wie auch immer gearteten Neuen.
 
Johannes Rau hat es, als er noch Landesvater war, so formuliert:
„Die Stärke Nordrhein-Westfalens liegt in der einmaligen Kombination der Eigenschaften seiner Völker: der Zuverlässigkeit des Rheinländers, der Leichtfüßigkeit des Westfalen und der Großzügigkeit des Lippers.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
 
Das Wunder Nordrhein-Westfalen begann im 8. Jahrhundert. Und es begann natürlich mit einer Männerfreundschaft. Genauer: mit der Freundschaft zwischen Karl dem Großen und Papst Leo III. Das eigentliche Wunder dabei ist aber nicht, daß der Aachener Kaiser (auch Klenkes-Karl genannt) sich mit dem süditalienischen Römer Leo III. anfreundete, ist doch seit Agrippina, der Mutter Neros, die in Rom Karneval und Kölsch einführte, die Seelenverwandtschaft dieser beiden Regionen in alle Ewigkeit gefestigt, das eigentliche Wunder ist, daß die beiden sich in Paderborn zum erstenmal trafen und dabei nicht nur nicht ‘laufen jejangen’ sind, sondern außer aneinander auch am Westfalen Gefallen fanden. Was übrigens für die oft unterschätzte Raffinesse des Westfalen spricht: er galt nämlich damals als Sachse, hatte aber die Zeichen der Zeit erkannt und war kurz vor dem Besuch der beiden rasch zum ‘normalen Glauben’ konvertiert - im Gegensatz zu den übrigen Sachsen, deren Halsstarrigkeit ja 30.000 von ihnen den Hals kostete. Zu Recht, wie uns die Geschichte lehrt, denn wären sie damals ebenfalls Rechtgläubige geworden, wäre uns sicher der Spitzbart und damit die teure Wiedervereinigung erspart geblieben. Nun denn: hat nicht sollen sein.
 
Die Westfalen hatten also ihren Göttern abgeschworen (einige von ihnen haben sich allerdings bis heute in Ansätzen erhalten: die Herforder Tulpe, das Hasenfenster, die Liebe zur Posaune und die Verehrung der Kartoffel als omnium remedium) und sich damit als mit dem genetisch katholischen Rheinländer koalitionsfähig erwiesen. Kaiser und Papst sahen darin die Chance, von diesen beiden Enden her - Aachen und Paderborn - Nordrhein-Westfalen quasi aufzurollen und Krone und Tiara zuzuführen. Schon 804, als Karl und Leo in Aachen Weihnachten feierten (dabei soll Leo so exzessiv den Printen zugesprochen haben, daß er ab da im Rheinland nur noch „dä Printepaaps“ genannt wurde) war Nordrhein-Westfalen als solches schon so gefestigt, daß dies in der berühmten Soester (das damals noch Sose hieß) Eidesformel seinen Ausdruck finden konnte:
„Ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, SOSE gelimida sin“ also: ‘Bein mit Bein, Blut mit Blut, Glied mit Glied - in Soest miteinander verschweißt’.
In einem feierlichen Akt in den Domen zu Kalterherberg, Köln, Soest und Paderborn unterzeichneten Printen-Leo und Kabänes-Karl den Eid (übrigens: um ein Haar hätte Leo den ganzen Vatikan nach Paderborn geholt, was für eine Vorstellung: urbi et orbi in westfälisch Platt, das wäre denn doch etwas extrem, oder?), der Rest ist Geschichte.
Natürlich sind wir in Nordrhein-Westfalen froh, daß nach 1945 Persönlichkeiten wie Pinkus Müller (u.a. Erfinder der Weitwurf-Frikadelle), Lübkes Hein (als sauerländischer Partykracher unvergessen), Adenauer (DER kölsche Experte für das linksrheinische Sibirien) und Willi Weyer (als geistiger Vater Möllemanns das missing link zwischen Anspruch und Zumutung, also zwischen Rheinland und Westfalen) den Besatzern die historische Dimension Nordrhein-Westfalens klarmachen konnten und damit für die Kontinuität dieses Wunderlandes sorgten, aber: wir hätten es auch ohne sie hingekriegt.
Und da sind wir bei der Frage: was bindet, bzw. unterscheidet die Mitglieder dieser Wohngemeinschaft Nordrhein-Westfalen, dieses kleinen Europas, an- bzw. voneinander? So, daß selbst diese Landtagswahl im Grunde niemanden erschüttern konnte?
Sie bindet das aneinander, was sie voneinander unterscheidet, Defizite und Fähigkeiten ergänzen sich wie sonst nirgends zum Wunderpuzzle NRW.
 
Der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklären (so hat es Hanns Dieter Hüsch, der niederrheinische Prophet aus Moers, formuliert) und ist damit der geborene Pressesprecher,
- der Selfkanter als Nicht-Mehr-Rheinländer und Noch-Nicht-Holländer erst seit 1963 Mitglied der Familie NRW hat dem nichts hinzuzufügen, was ihn zum Regierungspräsidenten geradezu prädestiniert,
- der Nordeifeler ist die lebende Brücke in die germanische Vergangenheit (wer einmal die Kirmes in Dreiborn erlebt hat, weiß, was ich meine) und damit geborener Archivar,
- der Sauerländer trifft den Nagel immer auf den Kopf - und zwar von beiden Seiten (oh Heinrich Lübke, wie fehlst Du uns!), ideale Eigenschaft für Präsidenten,
- der Bergische lebt am liebsten in Höhlen (was er vom Neandertaler gelernt hat) und ist so stolz darauf, schreiben zu können, daß er sich immer noch nicht vom Schiefertäfelchen trennen kann, höchste Eignung für Spitzenpositionen in Landschaftsverbänden und Polizeipräsidien,
- der Siegerländer hat seine Zunge den hochdeutschen Verkrampfungen verweigert (das rollende ‘R’ ist mehr ein Erstickungsanfall denn ein Sprachlaut), er ist damit der perfekte Fremdsprachenkorrespondent,
- der Kumpel vom Revier weiß immer wat Sache is, da fängsse richtich am staunen fängsse da, Übertage und Untertage und ist damit wie keiner für Tacheles geeignet,
- der Lipper hat das Sparbuch erfunden, weiß aber nicht mehr, wo er es hingelegt hat, was muß ein Finanzminister mehr aufweisen?,
- der Münsteraner war immer gut in Glauben (wovon die Wiedertäufer ein Lied singen könnten, hätten sie die Münsteraner nicht aufgeknüpft), verwaltet bis heute die konstantinische Schenkung und ist damit der geborene nuntius apostolicus,
- der Ostwestfale sagt a) immer die Wahrheit aber b) immer im falschen Moment, eignet sich also hervorragend zum professionellen Zeugen vor Untersuchungsausschüssen,
- der Rheinländer schließlich ist die Apotheose dieses Schmelztiegels, die Kraft, die alles eint, der kölsch-mediterrane Balsam, der im geschmeidigen Klüngel alles zusammenhält, was sonst unweigerlich auseinanderlaufen würde.
 
So ein Land ist unser Nordrhein-Westfalen. Und wenn da die Westfalen und die Rheinländer sich schon mal die Köpfe einhauen ist das eine Familienangelegenheit, die man nicht überbewerten darf. Das Erdulden der Unterschiede nämlich ist Zeichen nordrhein-westfälischer Toleranz. So hat man sich z.B. daran gewöhnt, daß innerhalb unserer Familie völlig unterschiedliche Fortpflanzungsriten gepflegt werden. Man lächelt heute höchstens darüber, daß der Ostwestfale sich durch Pollenflug vermehrt, der Kumpel vom Revier dafür nach Bad Hönningen oder in den Sauerlandstern fährt und der Niederrheiner sich ausschließlich im Nebel fortpflanzen kann (wofür ja extra der ganze Niederrhein tiefergelegt wurde), aber man kämpft nicht mehr gegeneinander um den allein seligmachenden Weg der Arterhaltung. Weil (und hier greift das rheinische Grundgesetz, dem sich alle Völkerschaften in NRW angeschlossen haben):
1. Et es wie’t es
2. Et kütt wie’t kütt  
3. Et hätt noch immer jot jejange!
 
So soll es und so wird es bleiben, solange es unser Nordrhein-Westfalen gibt. Und das ist gut so!
 
In diesem Sinne
 
Ihr
Konrad Beikircher
 
 

©  2013 Konrad Beikircher für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker