Schlaf des Guten (1)

Eine Erzählung

von Wolf Christian von Wedel Parlow

Schlaf des Guten (1)
 
Für Abschiedsworte war es auf dem Bahnsteig zu laut. Wir bitten um Ihr Verständnis, stand auf einem Schild. Und: Hier entsteht, was Sie sich schon immer erträumt haben, ein Busbahnhof mit direktem Gleisanschluß. Nur leider war da etwas im Weg, die Felsrippe, die den ehemaligen Behelfsparkplatz von Gleis 1 trennte. Ein bißchen Lärm würde es schon kosten, das Hindernis auf dem Weg zur Modernisierung der heruntergekommenen Stadt zu beseitigen. Gegenwärtig waren nur zwei Bagger im Einsatz. Es schepperte und kroch die Wirbelsäule hoch bis in den Kopf, wenn sie mit ihren Schaufeln am Felsen kratzten.
Nora pochte mir an die Brust. Vielleicht war es ihr doch unheimlich, mich allein fahren zu lassen. Sie hatte auf keinen Fall mitkommen wollen. Da hätte sie bestimmt Besseres vor, als sich zwei Tage lang Vorträge über die Befindlichkeiten einer fast vergessenen katholischen Dichterin anzuhören. Aber zur Bahn bringen wollte sie mich. Sie wollte mir Mut zureden. Ich sollte mich nicht unterkriegen lassen von den Eingeweihten. Denn natürlich sei ich für sie das geborene Opferlamm. Sie hatte nie verstehen können, daß ich mich der Gertrud von le Fort-Gesellschaft angedient hatte, noch dazu mit einem Vortrag zu diesem Thema. Thomas Mann über die Consolata. Kein Mensch werde mir abnehmen, daß sich TM über die Novelle geäußert hat. Denn einen Beleg gebe es nun einmal nicht. Daß ich die Leute damit abspeisen wolle, ich hätte den in meinem Besitz befindlichen Brief beim Umzug verloren, fand sie abenteuerlich.
„Laß dich nicht provozieren“, flüsterte sie mir zu, als das Scheppern der Baggerschaufeln für eine Weile nachließ. Sie kannte meine Neigung zu ausfälligen Bemerkungen, wenn ich mich angegriffen fühlte. So wenig sie auch übrig hatte für den Kreis, dessen Kritik ich mich mit meiner gewagten Konstruktion aussetzen wollte, überflüssigerweise, wie sie mir immer wieder vorhielt, so wünschte sie doch, daß ich dort eine passable Figur machte. Als ob eine Entgleisung auf sie zurückgefallen wäre, dachte ich, ihre selbstlose Sorge mißachtend.
Der Intercity nach Hannover war pünktlich. Ein flüchtiger Kuß, eine kurze Umarmung. Nora folgte vom Bahnsteig aus meinem Weg durch den Großraumwagen, bis ich meinen Platz erreicht und den Koffer auf der Ablage verstaut hatte. Der Zug setzte sich lautlos in Bewegung. Ich winkte, sie winkte zurück. Dann verschwand sie aus meinem Blickfeld. Das Verlustgefühl, das unmittelbar danach einsetzte, hätte mir als wiederkehrende Erfahrung vertraut sein können, aber es brannte wie beim ersten Mal.
Der Fensterplatz neben mir war besetzt. Die Frau mittleren Alters war mit mir eingestiegen. Noch ehe ich mich setzte, hatte sie ein Buch hervorgezogen und zu lesen begonnen. Auch gut, dachte ich, so brauchte ich keine Unterhaltung zu beginnen, was ich normalerweise tat, denn eine Stunde oder länger nebeneinander zu sitzen, ohne wenigstens ein paar belanglose Worte zu wechseln, kam mir wie ein Affront vor. So als wollte ich dem Sitznachbarn das Gefühl vermitteln, er sei Luft für mich. Unverfänglicher Gesprächsstoff bot sich immer. Gerade jetzt, als der Zug bedenklich schwankte, hätte ich bemerken können, das Gleisbett vertrüge wohl wieder einmal eine Erneuerung. Aber ich scheute mich, die Nachbarin bei der Lektüre zu stören, und holte stattdessen mein Manuskript hervor, was sie veranlasste, einen Blick auf das Deckblatt zu werfen.
„Thomas Mann über die Consolata“, las sie vor. „Klingt interessant. Consolata, was bedeutet das?“
Das war eben der Unterschied. Während es für mich eine Sache der Höflichkeit war, entschied die nachwachsende Generation ganz spontan, ob man einen Sitznachbarn ansprach oder ignorierte. Der Nachbar mußte etwas zu bieten haben, was man selber nicht besaß, Wissen zum Beispiel. Dann griff man zu. Beneidenswert, dachte ich, dieses Fehlen jeglicher Scheu.
„So heißt eine Erzählung von Gertrud von le Fort“, sagte ich. „Die Consolata war eine Laienbruderschaft, die sich die Aufgabe stellte, Menschen in Sterbensnot Trost zuzusprechen. Das Wort kommt von ..., ach, jetzt fange ich noch an, Sie zu belehren. Die le Fort ist Ihnen sicher kein Begriff.“
„Nicht wirklich. Sie war ja wohl Schriftstellerin. In Düsseldorf wurde kürzlich eine Oper aufgeführt, Poulencs Dialoge der Karmeliterinnen. Ich habe die Aufführung besucht. Ein Freund hat mich eingeladen.“ Sie lachte, als sei ihr das Eingeständnis peinlich, eine religiöse Veranstaltung besucht zu haben. „In der Einführung, die vorher gegeben wurde, war auch von Gertrud von le Fort die Rede. Von ihr stamme die Vorlage, hieß es.“
Eigentlich hätte ich sie jetzt fragen sollen, wie ihr die Oper gefallen habe. Aber das konnte uferlos werden, und ich wollte mir doch noch einmal den Vortragstext vornehmen. Deswegen antwortete ich nur kurz: „Genau. Von derselben Autorin ist die Consolata, um die es in diesem Text geht.“
„Und Thomas Mann hat sich über diese Erzählung geäußert, wie ich der Überschrift entnehme.“
So leicht würde sich die Frau nicht abschütteln lassen. Ich warf ihr einen Blick zu. Bisher hatte ich sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, wie einen Schattenriß. Sie sah interessant aus, stellte ich fest. Dunkles Haar, dunkle Augen, lebenshungrige, trockene Züge. Wenn ich jünger gewesen wäre ..., ach was!
Industriebauten rauschten neben uns vorbei in dem engen Tal entlang der Bahn, stattliche Häuser, alles intakt, kein Verfall, eher Reichtum andeutend. Und wo es Armut gab, verbarg sie sich hinter ergrauten Vorhängen. Nirgendwo Anmut, nirgendwo Idyllen, keine Greisin, die ihre Ziege am Strick hielt, beim Grasen am Wegrain.
„Richtig, sagte ich, es gibt einen Brief von ihm an le Fort, in dem er sich ausführlich über die Erzählung äußert. Sie hatte ihm die Erzählung geschickt, nachdem ihr kurz nach deren Erscheinen eine Broschüre zugesandt worden war mit einem Essay Thomas Manns. Bruder Hitler hieß der Beitrag. Der Begleitbrief ist mir nicht bekannt. Vermutlich schrieb sie ihm, ohne seine Betrachtung zu kennen, habe auch sie in Hitler einen Bruder gesehen. Allerdings habe sie die Verwandtschaft in eine Erzählung gekleidet, die in einem mittelalterlichen Rahmen spielt.“
Die Schilderung der Hintergründe würde ihren Wissensdurst fürs Erste stillen, hoffte ich. Vergebens, ich hatte sie nur zu neuen Fragen angeregt.
„Die Erzählung ist also eine Art, wie soll ich sagen, vielleicht ist Schlüsselerzählung der richtige Ausdruck. Da wird jemand geschildert, ein mittelalterlicher Herrscher, der, wie ich vermute, viele Menschen auf dem Gewissen hat. Aber der Leser kann erkennen, daß in Wirklichkeit jemand Anderes gemeint ist, nämlich Hitler. Sehe ich das richtig?“
„Absolut.“
Gar nicht so dumm, diese Frau. Vielleicht sollte ich mich doch nicht ganz so zugeknöpft geben. Der Zug schlingerte nach Hagen hinein. Auf immer mehr Gleise erweiterte sich das Bahnhofsgelände, zum größten Teil war es zugewuchert von Unkraut, Buschwerk und niedrigem, frühherbstlich leuchtendem Gehölz. Die Zeit, als hier Panzer verladen wurden, lag schon lange zurück.
„Dann ist die Geschichte sicher erst nach dem Krieg erschienen. Denn zu Hitlers Lebzeiten so etwas offensichtlich Kritisches herauszubringen hätte sich die Verfasserin wohl nicht getraut.“
„Stimmt, erschienen ist sie erst 1947. Geschrieben hat le Fort sie aber wohl schon 1943. Freunde sollen ihr damals geraten haben, den Text zu verstecken. In meinem Vortrag gehe ich auf diese Einzelheiten nicht näher ein. Thema ist allein der Vergleich zwischen den beiden Texten aus der Sicht Thomas Manns.“
Nun war es also heraus. Daß ich einen Vortrag halten werde und nicht nur ein gewöhnlicher Reisender war, unterwegs zu einem Verwandtenbesuch. Es war mir wieder einmal gelungen, mich herauszustreichen. Vielleicht hielt sie mich nun für einen Emeritus der Literaturgeschichte.
„Dann ist das also das Vortragsmanuskript, was Sie hier liegen haben. Und wo werden Sie den Vortrag halten? In Ihren Augen bin ich sicher schrecklich neugierig.“
„Nein, nein, lassen Sie nur. Ich freue mich über Ihr Interesse. Sie werden es nicht glauben, in Minden werde ich vortragen.“
„Minden, gibt es dort neuerdings eine Uni? Ich rausche da immer nur durch, wenn ich mit dem ICE nach Hannover oder Berlin unterwegs bin.“
Sie wirkte enttäuscht. Bielefeld oder Hannover hätte sie bestimmt lieber gehört, und daß mich das dortige germanistische Seminar eingeladen habe, mich, den bekannten Thomas Mann-Spezialisten.
Ich zögerte, mit der Wahrheit herauszurücken, und beschloß, nur das Nötigste preiszugeben.
„Wer weiß, vielleicht wird es auch dort irgendwann eine kleine Uni geben. Aber so wie es mit den Staatsfinanzen steht, ist das eher unwahrscheinlich. Außerdem werden wir immer weniger, auch Minden wird immer kleiner werden. Wozu also eine Uni! Nein, am Wochenende tagt dort die Gertrud von le Fort-Gesellschaft. Von der habe ich die Einladung.“
Daß ich mich selbst eingeladen hatte, welchen Unterschied machte das? Soweit ging meine Wahrheitsliebe nun wirklich nicht, daß ich bereit gewesen wäre, mich in ein schiefes Licht zu setzen.
„Und warum tagt man ausgerechnet in dieser Kleinstadt?“
„Weil die Dichterin dort geboren ist. Ihr Vater war Offizier und einige Jahre dort stationiert. Die Gesellschaft tagt am liebsten an Orten, wo sich die le Fort eine Zeit lang aufgehalten hat, in Heidelberg zum Beispiel. Dieses Jahr ist Minden an der Reihe.“
„Schade. Wenn Sie in Bielefeld vortragen würden, hätte ich vielleicht zu dem Vortrag kommen können. Ich finde die Idee interessant, in Hitler einen Bruder zu sehen. Hat so etwas von In-sich-den-Mörder-erkennen. Irgend so etwas steckt doch in jedem von uns.“
Sie hatte das Buch inzwischen zugeschlagen, wohl in Erwartung einer längeren Unterhaltung. Zu meinem Vortragstext würde ich nun nicht mehr kommen, fürchtete ich. Vielleicht abends im Hotel, falls mich nicht die Vorsitzende der Gesellschaft in Beschlag nahm.
Den Halt in Schwerte hatte ich kaum wahrgenommen, meine alte Schwäche, die Welt um mich herum zu vergessen, wenn mich etwas gefangen nahm. Eine Sache oder jetzt diese Frau. Natürlich war da nichts Erotisches im Spiel. Dafür war ich zu alt. Aber das Interesse, das sie an meinem Vortrag zeigte, schmeichelte mir. Vielleicht weil mir so etwas in meinem an Höhepunkten armen, ja ich kann ruhig sagen, erfolglosen Leben nur selten begegnete.
Jetzt erinnerte ich mich, auch in Schwerte fächerte sich das Bahnhofsareal in eine Unzahl von Gleisen auf, die zum größten Teil brachlagen. Selbst im Kriegsfall würde man sie nicht mehr brauchen.
„In sich den Mörder erkennen, warum nicht. Ein gewaltiges Thema. Aber das war nicht der Blickwinkel, aus dem Thomas Mann sich dem Phänomen Hitler näherte. Seine Perspektive war die des Künstlers, der einem anderen Künstler begegnet, einem gescheiterten Künstler. Er fühlt sich verwandt und verabscheut zugleich den mißratenen Bruder. Da ist sowohl Mitleid wie Haß im Spiel und natürlich Spott.“
Unwillkürlich war ich wieder einmal in die Rolle des allwissenden Dozenten gefallen. Ich verabscheute diese Seite an mir, verfiel ihr aber immer wieder. Es schien ihr aber nicht unangenehm. Vielleicht erwartete sie sogar, von mir belehrt zu werden.
„Schon erstaunlich, so ein Ansatz. Hitler als Künstler. Aber stimmt, er hat sich in Wien als Maler versucht.“
„Ja, auf diese Malerkarriere bezieht sich Mann. Aber der Maler hatte sich inzwischen entpuppt. Zum Vorschein war ein Politiker gekommen, der vor keinem Verbrechen zurückschreckte. Wie aus dem gescheiterten Maler ein Politiker wurde, der mit den Mitteln des Terrors regierte, das ist Manns Thema. Dabei standen die schlimmsten Verbrechen noch bevor, als er den Beitrag niederschrieb.“
„Wann war das?“
Sie wollte es genau wissen. So bald würde sie mich nicht entlassen in die erhoffte Besinnung auf den Vortrag. Aber vielleicht ..., wer weiß, was sich aus der Begegnung noch ergeben würde. Die Frau begann mich zu interessieren.
„Ende 1938. Ein paar Jahre später, als auch im Ausland bekannt wurde, was in Deutschland vor sich ging, hätte er es vielleicht nicht mehr über sich gebracht, sich in die Psyche Hitlers hineinzudenken, jedenfalls nicht mehr mit soviel Mitgefühl.“
„Und ihm wohl kaum noch den Ehrentitel Bruder verliehen, oder?“, ergänzte sie.
„Nein, das war ausgeschlossen.“
„Und doch hat le Fort es noch 1943 gewagt, das mittelalterliche Spiegelbild Hitlers Bruder zu nennen, wenn ich Sie recht verstanden habe. Sie wußte doch bestimmt von Auschwitz.“
Sie paßte wirklich verdammt gut auf. Man mußte auf der Hut sein vor ihr.
„Das fand auch TM erstaunlich, wie aus seinem Brief an le Fort hervorgeht. Er schreibt hier, ich zitiere: Ich bewundere den Mut, mit dem Sie dem Vorsteher der Consolata das Wort ‚Bruder Ansedio’ in den Mund legen, noch 1943, als Sie dieses merkwürdige kleine Werk verfaßten, wie Sie mich wissen ließen, in dem klaren Bewußtsein, der Leser werde in Ansedio keinen Anderen erblicken als Hitler, jenen modernen Wiedergänger Ansedios, der seinen mittelalterlichen Vorgänger allerdings in den Schatten stellte, was die Erfindung – und Nutzung − neuer Techniken industriellen Mordens betraf. Daß Sie noch 1943, als das Wissen über die Gräueltaten dieses Ungeheuers längst durchgesickert war zu allen, die ihre Ohren nicht bewußt zugesperrt hatten, daß Sie noch damals den Mut aufbrachten, diesem Monstrum einen Platz freizuhalten in der Menschengesellschaft, indem Sie ihn ‚Bruder’ nennen, ist bemerkenswert …“
Noch während ich vorlas, überfiel mich die Frage, was ich hier eigentlich tat. War es das ungestillte Bedürfnis nach Anerkennung, daß ich der wißbegierigen Unbekannten neben mir die Filetstücke meines Vortrags zur Kenntnis gab? Wollte ich von ihr bewundert werden, obwohl ich mich – auf einer anderen Ebene meines Bewußtseins – bei der Vorbereitung des Vortrags von ihr gestört fühlte? Aber diese Selbstzweifel waren nicht stark genug, um mich zu bremsen. Ich stand unter einem inneren Zwang und unterwarf mich willenlos dessen Energie, so wie der Zug, in dem wir saßen, von der Energie beherrscht wurde, die ihn antrieb.
Aber wie gesagt, das ging nur in meinem Inneren vor, unerkennbar für meine Sitznachbarin. „Ich gestehe“, so zitierte ich, noch immer innerlich abwesend, aus Manns Brief, „ich hätte das nicht über mich gebracht. Es hätte auch meinem Stilgefühl, das doch eher zur Ironie neigt, widersprochen. Aber Sie haben auch etwas ganz anderes im Sinn als ich mit meinem kleinen Essay. Sie analysieren nicht den Menschen Ansedio-Hitler, Sie verdammen ihn nicht, sie sehen in ihm nur den Menschen, der sich eine tödliche Wunde beigebracht hat und im Begriff ist, in das Totenreich hinabzusteigen. Es ist der Moment, in dem auch einem Gewaltmenschen Trost zugesprochen darf. Denn als Sterbender ist er genau so elend wie wir alle in diesem Moment, er ist unser Bruder. Ja, er ist noch viel elender‚ als wir es in diesem Moment wären. Ganz zu Recht lassen Sie den Vorsteher sagen: ‚Welches Erbarmen empfinden wir mit dir, du Ärmster der Armen, bist du doch tausendmal elender als die Tausende, die du elend machtest!’
Nur ganz am Rande: Ich bewundere, wie seherisch Sie die Szenerie beschreiben, in der sich das letzte Stündlein des Tyrannen von Padua abspielt. Man bräuchte nur ein paar Requisiten auszutauschen und schon befände man sich im Bunker unter der Reichskanzlei, wo der wirkliche Hitler die Zyankali-Kapsel zerbiß.“
„Ich kann mir die Szene gut vorstellen nach dem Kinofilm Der Untergang“, unterbrach sie mich.
„Fast alle Deutschen haben den Film gesehen. Er gehört jetzt zu den Bildern, die unser kollektives historisches Gedächtnis prägen.“ Da hatte ich mal wieder etwas gesagt, so gestelzt, so professoral. Sie ließ sich aber keineswegs beeindrucken.
„Kollektives historisches Gedächtnis, damit kann ich nichts anfangen, ist wohl eine Erfindung überehrgeiziger Professoren. Entschuldigung, der Begriff stammt doch hoffentlich nicht von Ihnen.“
„Nein, ich bin unschuldig. Ich weiß gar nicht, wo ich ihn aufgelesen habe, irgendwo.“ Ob sie jetzt wohl Ruhe gäbe mit ihrer unersättlichen Wißbegier?
Wir sahen beide zum Fenster hinaus. Unna lag bereits hinter uns. Das Land war flacher geworden und wurde bis auf ein paar Waldstücke landwirtschaftlich genutzt. Große Schläge, meist abgeerntet, nur Kartoffeln, Mais und Rüben standen noch.
„Kommt es Ihnen nicht auch etwas mokant vor, wie sich Mann über die seherischen Fähigkeiten le Forts äußert? So als ob er ihr ein klein wenig mißtraut, daß sie die Todesszene tatsächlich schon 1943 niedergeschrieben habe.“
Wie hatte ich nur hoffen können, meine bisherigen Auskünfte hätten sie zufriedengestellt! Aber ich mußte einräumen, es erregte meine Bewunderung, wie zielstrebig sie mich auszuforschen versuchte. Und dieses Gefühl löste etwas in mir aus, es befreite mich von dem zwanghaften Widerstreben gegen einen gelassenen Gedankenaustausch. Wie oft hatte ich schon bei der Begegnung mit einem Fremden ein näheres Kennenlernen verpaßt, weil mir meine Zeit zu schade war, weil ich noch unbedingt an einer Sache arbeiten wollte, an einem Text, an dem ich gerade saß, so wie ich jetzt die Bahnfahrt noch unbedingt nutzen wollte für die Vorbereitung auf den Vortrag. Ich nahm mir vor, es heute besser zu machen.
 

Den zweiten Teil dieser Erzählung können Sie hier am kommenden Sonntag lesen.


© 2013 Wolf Christian von Wedel Parlow - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker