Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Der Wunsch nach Unsterblichkeit
läßt im Alter nach

3. Februar: Der dicke Mann trug mit seinen großen Händen einen blauen Pappkarton. Draußen lag Schnee, und vorsichtig schob er seinen Füße durch die weiße Pracht. Was war nur in dem Karton? War darin eine Torte versteckt? Was sonst? Paß auf, da kommt der dicke Mann mit seinem Quatschkopf, der erzählt dir Geschichten, da fallen dir die Ohren ab. Frag ihn nach der Torte? Frag ihn, was er in seinem Paket gefangen hält.
 
5. Februar: Der Wunsch nach Unsterblichkeit läßt im Alter nach.
 
7. Februar: Auf der Post: Natürlich wußte er, daß Zeit keine objektive Eigenschaft unserer Welt war. Sie ist, wie Einstein in seiner Relativitätstheorie beschrieb, abhängig von Bewegung und Gravitation. Hier tat sich nur gar nichts. Der Stillstand war seiner Mission nicht förderlich. Seitdem vor 13,7 Milliarden Jahren das Weltall geboren wurde, spürte er den Abwärtstrend des Universums besonders heute.
 
8. Februar: Es war auf der Fahrt nach Schloß Neuhaus, als die Mineralwasserflasche komische Töne von sich gab. Sie lag vorne im Fußraum des Beifahrersitzes. Gerda und ich schauten uns an. Wir kannten das schon, daß Plastikflaschen manchmal aufstöhnen, wenn man sie zu zügig austrank und ihnen die Luft entzog, die ihre Form ausmachte. Aber diese Töne waren anders. Sie klangen leicht verhuscht, als wären sie ein Lebenszeichen, das sich nicht ganz sicher ist, ob es gehört werden will. Wie ein Aufseufzen eines Selbstmörders, der schon gerettet werden will, aber dann nicht mehr wüßte, wie es weiter gehen soll. Die Flasche meldete sich mit einem heiseren: »Hier bin ich«, als hätte sie Angst, vergessen zu werden, wäre ansonsten aber nicht auf unsere Anwesenheit scharf. Tatsächlich war noch ein kleiner Rest Mineralwasser in der Flasche. Es war nicht viel, aber genug, um getrunken werden zu können.
 
10. Februar: Heute hatte ich ein schreckliches Erlebnis. Eine Frau humpelte auf mich zu: »Haben Sie schon bemerkt, daß ich nur ein Bein habe?« Mein Gott, was sagt man denn da? Man will doch nicht unhöflich sein. Natürlich hatte ich bemerkt, daß die Frau nur ein Bein hatte. Ich mein, das liegt doch auf der Hand. Ein fehlendes Bein ist kein Pappenstiel. Das fällt schon auf. Sie hat nicht zu mir gesagt: »Haben Sie schon bemerkt, daß ich Hunger habe und arm bin wie eine Kirchenmaus? Haben Sie schon bemerkt, daß ich nur so unbeliebt bin, weil ich einsam bin? Haben Sie schon bemerkt, daß ich noch nie im Zoo war und ungern Strümpfe trage? Haben Sie schon bemerkt, daß ich vor ihnen stehe und Sie mit einem Schuß töten könnte?«

13. Februar: Es ist schade, daß das Zusammenleben mit einem Hund vom Staat nicht so gefördert wird wie andere Gemeinschaften.

15. Februar: Choral: Die, die zur Seite gehen, wenn einer vorbei muß, sind auch die, die warten, bis man mal dran ist. Die, die dann aufstehen, wenn einer Platz braucht, sind auch die, die erst essen, wenn alle satt sind.

 

© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker