Drei Gold Dollar

von Michael Zeller

Foto © Frank Becker
Drei Gold Dollar
 
In welcher Stimmung Mutter war, wenn sie mich oder einen der Brüder vom Grauberg hinab in die Stadt schickte, um für sie drei Gold Dollar zu holen, beim Kaufmann Frankenberger, gegenüber der schwerleibigen katholischen Kirche – ich kann’s nicht sagen, hab es vielleicht nie gewußt. Ihr Drang zu rauchen, jetzt, in diesem Augenblick, war jedenfalls heftig und duldete keinen Aufschub. Ein Moment, da nicht die Sorge ums Geld die Peitsche über ihr Denken schwang, sondern etwas anderes.
Kaufmann Frankenberger im graublauen Kittel wußte Bescheid. Er griff hinter sich in ein Fach, holte das angebrochene Päckchen vor (an ein helles Grün erinnere ich mich und an goldene Buchstaben), leckte sich die Finger ab, dicke kurze Finger, und pulte drei Zigaretten raus. Die Finger mußten auch noch das braune Papier der dreieckigen Tüte auseinanderbringen (das ging ebenfalls nur mit Lecken). Wenn ich mal Geld dabei hatte, prüfte er knapp die drei Groschen und warf sie mit sicherem Schwung in die Kassenlade, die mit einem Klingeling! aufgesprungen war. Allzu oft bekam ich das Klingeln nicht zu hören. Meistens mußte ich anschreiben lassen. Dann klang das „Auf Wiedersehen!“ von Frankenberger so, daß es mir auf dem Heimweg noch eine Weile in den Ohren saß.

Heute bekam ich das Gefummel seiner dicken Finger gar nicht mit. Ich war abgelenkt. Ein schwarzer Soldat war im Laden, einer von den Siegern. Wir Kinder kannten fast jeden einzelnen von ihnen, wenn sie in ihren Jeeps durch die Straßen der kleinen Fachwerkstadt am Fluß fuhren, auf leisen Reifen, die selbst auf dem Katzenkopfpflaster nicht zu hören waren, und langsam, kaum schneller, als wir rennen konnten. Oft haben wir es ausprobiert und den Wettlauf eigentlich nie so richtig verloren. Wir mußten bloß früh genug „Erster!“ rufen, mit hängender Zunge. Der Schwarze im Laden nickte zu mir rüber, sagte etwas, mit seiner tiefen Stimme, es klang wie Gurgeln. „Eis?“ Das verstand ich. Ich nickte auch.
Unten am Fluß, bei der gesprengten Brücke, stand der Eiswagen. Nicht ein Bällchen, drei durfte ich mir nehmen. So viel zu wählen. Vier verschiedene Farben. Ich überlegte lange. Vanille, wie sonst, dazu noch eine Kugel Zitrone und Schoko. Das weiß ich bis heute (auch weil ich bei dieser Wahl mein ganzes Leben geblieben bin). Der schwarze Soldat warf dem Eismann eine viel zu große Münze hin und winkte gleich ab. Von dem Wechselgeld hätte ich eine ganze Woche lang in Süßigkeiten schwelgen können.
Wir gingen runter ans Wasser, setzten uns auf die Kiesel. Jetzt erst, wie wir so nah beieinander saßen, spürte ich, wie winzig ich war und wie groß und stark dieser Mann, und wie schwarz. Zu reden gab’s wenig. Er konnte kein Deutsch, ich kein Amerikanisch. Aber wir verstanden uns auch so. Ich lutschte an meinem Eis. Er rauchte. Schöne weiße Ringe vor seinem Mund konnte er machen. Nach einer Weile sagte er etwas. „Joey“ verstand ich, und daß das sein Junge war. Mit Händen und Füßen machte er mir klar: Joey war so alt wie ich und lebte weit weit weg von hier, in diesem fernen Land Amerika, und daß er jetzt gerne bei ihm wäre, dieser große, schwere, mächtige Mann in seiner sauberen, frisch gebügelten Uniform. Das kapierte ich gut. Mein Papi war ja auch immer noch im Krieg, obwohl der längst vorbei war, wie die Erwachsenen sich erzählten. Wir hatten ihn verloren und die Amerikaner gewonnen, und deshalb waren jetzt alle diese Schwarzen bei uns. Wie Papi aussah, daran konnte ich mich fast nicht mehr erinnern. Nur an sein Lachen. Das hing bei uns an der Wand, ein kleines Foto, über Mutters Bett. Und ich wußte, daß alles – alles besser würde, sobald er nur erst wieder bei uns wäre. Aber irgendwie dämmerte mir, daß es diesem reichen Mann, der neben mir auf den Kieseln saß wie ein Riese und rauchte und weiße Kringel drehte mit seinen Lippen, so ähnlich ging wie mir. Richtig traurig sah er dabei aus. Wenn sie in ihren Jeeps fuhren, nur eine Hand am Steuer, lachten sie dauernd mit ihren großen weißen Zähnen. Da waren sie alle immer nur glücklich in unseren Augen.

Jetzt mußte ich aber los. Mutter wartete auf ihre drei Golddollar. Da konnte sie wütend werden. Ich rannte den Grauberg hoch, daß mir das Herz bis an den Hals klopfte. Schon auf der Treppe zu unserer Mansarde hörte ich eine fremde tiefe Stimme. Die gehörte nicht zu uns. Ein Mann. Wer konnte das sein? Der Onkel aus Aachen, der gerade noch irgendwo rausgekommen war, vor den Russen, glaub ich?
Nein. Ein Fremder saß auf dem niedrigen Hocker in unserer Wohnküche. Mutter stand am Fenster, mit verweinten Augen. Der Mann schaute sie fragend an, als ich reingekommen war. Eine armselige Gestalt, blaß und dünn. Mutter nickte. Und weinte. Der Mann stand vom Hocker auf, schwankte, hielt sich an der Tischkante fest. Ich hatte Angst vor ihm, in seiner zerrissenen grauen Jacke. So verhungert sah der aus. Er kam auf mich zu. Bevor er mir etwas tun konnte, hielt ich ihm die braune Tüte entgegen, mit Mutters drei Gold Dollar. Er schaute mich immer noch so komisch an, griff nebenbei, als wollte er’s gar nicht richtig, nach der Tüte, aber mit der falschen Hand.
„Jetzt sag deinem Papi endlich Guten Tag!“ flüsterte Mutter, das Taschentuch vorm Mund.
Da sah ich, daß dem Mann der rechte Ärmel seiner Jacke leer nach unten hing.



© 2012 Michael Zeller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker