Haus Wirklichkeit

von Erwin Grosche

Titelfoto © Harald Morsch
Haus Wirklichkeit
 
Haus Wirklichkeit: Mensch, was bin ich glücklich. Ich bin ja so glücklich. Ich hab’ gerade meine klare Porreebrühe mit Ei gegessen. Das war was Feines. Das hat lecker geschmeckt. Was bin ich glücklich.
   Ich eß’ jetzt häufiger im Haus Wirklichkeit, früher Westfalenhof, jetzt Haus Wirklichkeit. Ein Haus, welches sich nicht gegen den Menschen richtet. Und es stimmt. Mensch, was bin ich glücklich.
   Man hat dort die Auswahl zwischen zwei Menüs. Eines schmeckt, eines schmeckt nicht. Oder wie die das nennen: Eines ist vegetarisch, das andere dem Kirchenkreis angepaßt. Freitags gibt es also immer Fisch.
   Ich bin immer so glücklich, wenn ich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden kann, von denen ich gleich eine ausschließe. Diese Form von Freiheit laß’ ich mir gefallen. Ich scheitere doch schon bei den drei Dressing-Soßen zu den Salaten. Irgendwann fiel mir auf, daß ich immer, also wirklich immer, von dem Joghurt-Dressing nahm, nur weil es in der Mitte stand. Das entspricht meinem Harmoniebedürfnis. Nun nehm ich auch mal das geheimnisvolle Kräuter-Dressing links, weil ich im Grunde für Veränderung bin. Und wissen Sie was? Das schmeckt genauso und sieht nur anders aus. So muß es sein. Irre, nicht? Ich bin ja so glücklich.
   Was war das aber auch eine leckere Suppe gewesen. Ich habe sie ausgelöffelt, ohne eine Pause zu machen. Ratzfatz, wie eine Freischwimmerprüfung. Wenn ich hungrig bin, bin ich immer am glücklichsten. Dann esse ich die Suppe und bin eigentlich schon wieder satt. Meinetwegen dürfen die alles ändern: Die Rechtschreibung, die Geldwährung, die Mehrwertsteuer, sogar die Kopfpauschale. Solange sie nur die Hände von der Suppe lassen, also dann würde ich pampig. Dann wäre ich schnell ungenießbar. Als Vorspeise möchte ich eine Suppe essen.
   Danach gab es noch einen Sylter Matjessalat mit Zwiebeln, Gurken und Apfelspalten, dazu Pellkartoffeln, die witzigerweise schon gepellt waren, und als Beilage einen grünen Salat, den ich mir selbst zusammenstellen mußte, wobei aber schon vorher alles so kombiniert wurde, daß es miteinander harmonisierte. Nachtisch war ein Ananasfruchtjoghurt aus dem Allgäu. Mensch, darauf muß man erstmal kommen: Ein Ananasfruchtjoghurt aus dem Allgäu. Das laß ich mir gefallen.
   Traf ich dann Herrn Wocker aus der Stadtverwaltung. Die halbe Stadtverwaltung ißt ja inzwischen in der Wirklichkeit, weil die vom Tempo hier nicht zulegen müssen. Hier hat ja jeder die Ruhe weg. Sagte der: „Haben Sie heute nur den Ersatzpudding bekommen?“
   Ich erwiderte: „Wieso Ersatzpudding? Der Joghurt aus dem Allgäu ist doch erste Sahne.“
   Er sagte, der richtige vom Menü I sei leider ausgegangen. Ich wollte noch sagen: Sagen Sie bitte nicht, welchen richtigen Pudding ich verpaßt habe, ich bin da so empfindlich, da legt er schon los: ,,Eigentlich gab es heute Rote Grütze-Pudding mit Vanillesoße“, und ich mache noch haaaaaaaaaaaaaa, aber ich habe trotzdem alles gehört. Und  ich dachte nur: Zu spät, warum tut mir das Herr Wocker an? Gerade Rote-Grütze-Pudding mit Vanillesoße gehört doch zu meinen absoluten Lieblingspuddings. Herrn Wocker von der Stadtverwaltung soll der Blitz treffen oder Herrn Schmacks, der alle immer mit seinen Bandscheibenvorfällen nervt. Wahrscheinlich wird mein Allgäuer Ananasjoghurt jetzt wirklich zum Ersatzpudding.
   Nach dem Essen müssen wir unser Geschirr und unser Besteck selbst wegräumen. Herr Brommel, der Hausmeister der Wirklichkeit, achtet penibel darauf, daß wir da nichts durcheinander bringen. „Sonst ham wir hier gleich Sodom und Gomorrha“, sagt Herr Brommel immer. Beim ersten Mal hatte mir Herr Brommel noch geholfen. „Zuerst“, sagte er, „schieben Sie die Essensreste in die blaue Tonne.“ Da habe ich gesagt: „Stop, das brauchen Sie mir nicht zu sagen, ich esse immer alles auf.“ Da hat Herr Brommel gesagt: ,,Trotzdem, zuerst schieben Sie die Essensreste in die blaue Tonne.“ Da habe ich gesagt: „Stop, das brauchen Sie mir nicht zu sagen, ich esse immer alles auf - sonst gibt es am nächsten Tag doch kein schönes Wetter.“ Herr Brommel überging meinen Witz und sagte: „Trotzdem“, und ich merkte, der braucht den ersten Satz nur, um in Schwung zu kommen, der braucht etwas, damit er in Fahrt gerät, als Anlauf, und er fährt fort, „trotzdem, zuerst schieben Sie das restliche Essen in die blaue Tonne. Dann wird das benutzte Besteck in den Eimer mit Wasser geschmissen, danach die großen und kleinen Teller links auf dem Wagen abgestellt, Gläser und Suppentassen rechts auf dem Wagen. Das Tablett schiebt man in das erste Fach. Zum Schluß wird sich gebückt und -zack- die Flasche Mineralwasser in den Kasten gestellt.“
   Ich habe es mir dann ganz genau angesehen, wie es die anderen machen: Tatsächlich, zuerst schoben sie das restliche Essen in die blaue Tonne. Dann schmissen Sie das benutzte Besteck in den Eimer mit Wasser, Große und kleine Teller stellten sie links auf den Wagen, Gläser und  Suppentassen rechts auf den Wagen. Das Tablett schoben sie in das erste Fach. Zum Schluß bückten sich alle und stellten -zack- die Flasche Mineralwasser in den Kasten.
   Das kann ich auch, dachte ich, stellte mich mit meinem Tablett in die Reihe, und dann war ich dran. Herr Brommel saß hinter der Kasse, damit er genau verfolgen konnte, daß hier nicht alles drunter und drüber ging, Der würde staunen.
   „So“, sagte ich dann, „ich habe zwar keine Reste auf dem Teller, aber wenn, dann würde ich sie in die blaue Tonne schieben. Das Besteck schmeiße ich in den Eimer mit dem Wasser. Die großen und kleinen Teller stelle ich links auf den Wagen und das Glas und die Suppentasse kommen dann nach rechts. Das Tablett schiebe ich in das erste Wagenfach. Dann schnell bücken und -zack- die Mineralwasserflasche in den blauen Kasten gestellt.“
   Ich war zufrieden. Ich hatte alles richtig gemacht und sogar noch den Essensreste-Satz an den Anfang gestellt, um Herrn Brommel meinen guten Willen zu zeigen: Plötzlich springt Herr Brommel auf und schrie wie am Spieß: „Und was ist mit der leeren Allgäuer Ananasjoghurtverpackung?“
   Da hatte mich Herr Brommel kalt erwischt, und alle schauten auf mich. Ich hatte die Allgäuer Ananasjoghurtverpackung einfach auf dem Tablett liegen lassen und nicht artgerecht entsorgt. Wie konnte das nur passieren? Ich war verzweifelt. Plötzlich schrie Herr Brommel wieder: „O.k., das Gesamtergebnis ist noch zu steigern, aber ansonsten war das alles für das erste Mal eine reife Leistung.“
   Hatte ich richtig gehört? Ich hatte richtig gehört. Alle lächelten mich an und klatschten. Ich war nun einer von ihnen, und wissen Sie was, ich war stolz darauf.
   Ach ja, das wollte ich noch erzählen. Ich las dann später den Speiseplan. Heute sollte es gar keinen Rote-Grütze-Pudding geben mit Vanillesoße, meinem Lieblingspudding, sondern Götterspeise von Schwarzer Johannisbeere, und die kann sich Herr Wocker in die Haare schmieren.
   Oh, ich muß mich beeilen, in zwanzig Minuten gibt es schon wieder Kaffee und Kuchen. 
 
 
 
© Erwin Grosche – Veröffentlichung aus
„Die Wirklichkeit und andere Übertreibungen“
mit freundlicher Genehmigung