Totenmaske einer Lebenswelt

Knut Marons Foto-Memorial „Ein Leben“

von Andreas Steffens

Foto © Knut Wolfgang Maron
Totenmaske einer Lebenswelt
 
Knut Marons Foto-Memorial
„Ein Leben“
 
 
„Immer noch will ich
Ein Aufhebens machen
Vom Tod von der Liebe“
 
Marie Luise Kaschnitz
 
 
 
Götter, Liebe, Tod. Diese drei sind die dauerhaftesten Themen der europäischen Künste. Denn in ihnen verdichten sich die Erfahrungen, die sich nicht bewältigen lassen. Es sind die fundamentalen menschlichen Erfahrungen, aus denen alle Kultur entsteht. Kultur ist die Verwandlung der Überwältigungen des Seins in Antriebsenergien des Daseins.
Jede künstlerische Existenz wiederholt diese elementare Verwandlungsarbeit. Immer wieder. Mit jedem Werk aufs neue. Durch Darstellung und Gestaltung wenigstens zu bändigen, was sich nicht beherrschen läßt, und jederzeit unkontrolliert ins Leben einbrechen kann, ist Urimpuls der Kunst.
Der Tod der Eltern gehört zu den eingreifendsten Erlebnissen dieser Art. Mit ihm verschwindet der eigene Ursprung aus der Welt. Nun hat sich zu erweisen, ob die erreichten Verwebungen der eigenen Existenz in die Welt tragfähig genug sind für ein eigenes Leben.
Knut Maron hat sich mit seinem großen Zyklus >Ein Leben< dieser Erfahrung mit den Mitteln seiner Kunst gestellt, der Fotografie. Der Gesamtkorpus, der annähernd zweihundert Fotos umfasst, ist ein bewegendes persönliches Memorial für seine Mutter, und ein bedeutendes zeithistorisches Dokument von anthropologischem Rang.
So intim dieses konzentrierte Bildarchiv eines individuellen Lebens ist, so genau gibt es exemplarischen Aufschluß über die Ästhetik der Alltagspragmatik einer ganzen Generation. Diese persönliche Dokumentation ist um so eindrucksvoller, als Marons Foto-Ästhetik gerade keine dokumentaristische ist, sondern eine entschieden subjektiv-poetische.
Um wirkliche Pietät zu erreichen, muß man die Kraft aufbringen, pietätlos zu sein. Knut Maron hat sie gefunden und den Mut gehabt, seine sterbende Mutter in ihrem letzten Lebensjahr mit der Kamera zu begleiten. Neben dem Sohn, der die Pflege der Mutter übernahm, und ihr den Haushalt führte, wann immer er konnte, agierte der Fotograf, und dokumentierte ihre letzte Lebenszeit inmitten ihrer persönlichen Alltagswelt, in der sie ihr Leben zugebracht hat.
Damit setzte Maron seine Kunst einer äußersten Probe aus. Und schuf ein beeindruckendes Meisterwerk der zeitgenössischen poetischen Fotografie.
Wenn ein Mensch stirbt, endet nicht nur ein Leben. Nicht nur dieser Mensch verschwindet aus der Welt. Mit jedem Tod verschwindet auch die Welt, in welcher der Mensch lebte, der ihn erleidet. Jeder ‚Nachlaß’ liegt jenseits der Lebenswirklichkeit dessen, der ihn zurückläßt, in die kein Weg mehr führt. Der Eintritt in das Zimmer eines Toten ist ein Gang in ein bisher noch nie betretenes Gelände, wie oft man sich auch in ihm zu dessen Lebzeiten aufgehalten haben mag. Der Tod verwandelt alles, was zu dem Leben gehörte, das er beendete.
Man weiß von Tieren, die untröstlich um ihre verstorbenen Besitzer trauern. Auch die Dinge, die das Leben eines Menschen begleiteten und prägten, erfahren durch seinen Tod eine Verwandlung. Wer die Wohnung eines Verstorbenen zum ersten Mal betritt, bekommt das als eine nur diesem Moment eigene, ganz besondere Art von Leere zu spüren, als zögen die Dinge sich in sich selbst zurück, sich ihrer Nutzung durch andere als ihren abgeschiedenen Besitzer entziehend, wie ihr Zurhandsein aufkündigend.
Knut Marons Fotos portraitieren die zur Hinterlassenschaft gewordenen Dinge, die die Alltagswelt seiner Mutter bildeten, in diesem einzigartigen Zwischenzustand. Ohne jedes Arrangement, ohne kompositorischen Eingriff setzt er sie ins Bild so, wie er sie als Zufallsstilleben vorfindet, gebannt vom Abscheiden des Menschen, dessen Leben sie begleiteten. Mit dessen Verschwinden erreichten auch sie den endgültigen Zustand ihres Seins. Ihrem bisherigen Nutzen nun entkleidet, verwandeln sie sich zu reinen Objekten.
Die vielschichtige Komposition jedes Bildes entsteht ausschließlich im Blick des Fotografen. Ihre genau dosierte Farbgebung, die ihre Kraft durch Dämpfung gewinnt, wie im Dämmer die Farben des vergehenden Tages am stärksten leuchten, verleiht den gezeigten Dingen ein fast heiteres verhaltenes Strahlen, umgeben von einem Ernst ohne Last. So entsteht Aura, ohne daß es auf sie kalkuliert abgesehen wäre.
Von Achtung geprägt, überführt die im Blick des Fotografen gesammelte Aufmerksamkeit die alltagspragmatischen Arrangements in Küche, Garten, Wohnzimmer, Keller in eine Ästhetik der Eigenwertigkeit der Dinge. Ihrer Funktion beraubt, erscheinen sie in ästhetischer Autonomie. Im Geist Duchamps ergreift der Fotograf die ‚Partei der Dinge’, wie Francis Ponge sie schreibend ergriff, mit der plastischen Genauigkeit einer Louise Bourgois.
„Man verschwindet entweder spurlos, oder hinter seinem Werk“ (Elazar Benyoetz). Oder wird bewahrt im Werk eines anderen. Noch ein Jahr lang nach dem Tod seiner Mutter hat Maron die Dinge ihres Alltags ins Bild gebannt, und damit die mit ihrem Tod zum Verschwinden bestimmte Lebenswelt seiner Mutter in sein eigenes Werk versetzt. Paarweise einander zugeordnet, ergeben die Portraits der Person seiner Mutter und der Dinge, die ihr Leben begleiteten, ein Archiv eines gewesenen Lebens.
Indem er sein künstlerisches Werk so zum Asyl des nach Naturgesetz und Gesellschaftsnorm dem Verschwinden Überantworteten machte, bewährte Maron seine Kunst der Fotografie als Medium einer Bewahrung auf Gegenseitigkeit, als welche Menschen einander Erinnerung schulden.
Der auf Genauigkeit gestimmte Blick des Fotografen hält den Schmerz des Sohnes in Schach, während dessen Mitleiden den Blick durch die Kamera vor jeder Leichtfertigkeit bewahrt.
Die Photographie, heißt es einmal bei Proust, erlangt ein wenig von jener Würde, die ihr sonst fehlt, wenn sie nicht mehr eine Reproduktion des Wirklichen ist und uns Dinge zeigt, die nicht mehr existieren. Daran gemessen, erlangt Knut Marons Fotokunst mit >Ein Leben< ein neues Stadium, indem er einen Menschen und dessen Dingwelt zeigt, die kurz davor stehen, aus dem Dasein ins Gewesensein überzugehen. Der Betrachter dieser Bilder bekommt zu sehen, was es außer auf ihnen nun nicht mehr gibt.
Üblicherweise ersetzt das dokumentarische Foto die Erinnerung durch die Herstellung eines Gegenstandes, der scheinbar die Sichtbarkeit des Vergangenen zu jederzeit möglicher Wieder-Ansicht in sich bereithält. Maron konzipiert seine Fotos stattdessen als Mittel des Erinnerns, indem er ihre Sujets behandelt, als würden sie durch den Akt des Fotografierens ein letztes Mal wirklich. Er richtet diesen poetischen Kamerablick auf die noch vorhandenen Gegenstände und den noch vorhandenen Menschen. Es ist ein Blick der Vorhersicht auf ein bevorstehendes Gewesensein, das sich nicht abbilden läßt. Der Kamerablick fixiert eine Präsenz, die ihr Verschwinden erwartet.
Das muß von einem großen Schmerz begleitet gewesen sein, da es stellvertretend für den nächsten aller möglichen nahen Menschen geschah, dessen Verschwinden aus dem Leben am allerwenigsten anerkannt werden kann.

Foto © Knut Wolfgang Maron
So ist >Ein Leben< ein Kunstwerk der Vor-Erinnerung. Das noch nicht Vergangene wird im Zustand des Vergehens schon dem Blick des Erinnerns ausgesetzt. Die Vergangenheit, die die Bilder ihren Betrachtern zeigen, gab es für ihren Hersteller noch nicht. Sie erfinden den Rückblick auf den Zustand des Zurückgelassenseins, bevor er eingetreten ist.
Das macht ihre Anmut aus, und ihren Schmerz. Sie zeigen die Fülle eines Daseins in der Erwartung seines Vergehens.
Für diese Anstrengung einer vorweggenommenen Erinnerung gilt nicht, was Uwe Johnson, der große Erinnerungskünstler, beinahe resignierend vom Bemühen um sie sagte: Das Stück Vergangenheit, Eigentum durch Anwesenheit, bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali-Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten her gesehen wie mit Kinderaugen. Auch dieser Mensch und seine Dinge bewahren ihr Geheimnis. Aber in diesen Bildern wird ihre verschwundene Wirklichkeit auf eine Art bezeugt, die von dem Bewußtsein des Skandals getragen ist, daß selbst, was ihrer wert wäre, nicht auf unbegrenzte Dauer sein kann.
 
 
 
© 2007/2012 Andreas Steffens
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