Für eine Kunst des Alterns (1)

von Andreas Steffens

Dr. Andreas Steffens - Foto © Frank Becker

Für eine Kunst
des Alterns (1)

 
 
Der Schatten des Eigenen nimmt der Welt ihr Gewicht.
Durs Grünbein, „in utero“, >Falten und Fallen<
 
 
Alt werden, will - fast – jeder; es dann aber auch sein, ist man es erst geworden? Wer könnte es dann auch wirklich? Ist die erschreckendste Eigenart des Alters doch das Nachlassen, schließlich das Verschwinden all dessen, was man einmal konnte. Aber kommt es auf Können hier überhaupt an? Wie hätte man es lernen sollen, alt zu sein?
Und kann man es überhaupt wollen, alt zu sein, außer als Unvermeidlichkeit eines langen Lebens, da Altern der Vorgang ist, in dem das eigene Sein in der Welt sich dem unabweisbaren Gewesensein immer schneller zuneigt? Bei allem Wohlstandsrentnertum, zu dem unsere Zivilisation es brachte, das Alter bleibt die Zeit, in der der Skandal der Endlichkeit akut wird. Es ist die Lebensphase, in der sich immer mehr beschleunigt, was Heidegger in seinem einzigartig widerlichen metaphysischen Zynismus das ‚Vorlaufen zum Tode’ nannte.
Es ist die Ausnahme, wenn einer altert, schließlich alt wird, ohne daß es seine Lebensführung beeinträchtigt. Einer dieser Bevorzugten war Ulrich Sonnemann. Immer wieder wurde ihm die Frage gestellt, wie er es schaffe, noch so vital zu sein. Seine Antwort führt ins Zentrum einer ‚Kunst des Alterns’: „Ich habe mich nicht um das Alter gekümmert; also hat das Alter sich auch nicht um mich gekümmert“.
Diese Magie des Sozialphilosophen, der in dem Alter akademischer Lehrer wurde, in dem man üblicherweise pensioniert wird, diese in seinem Fall so glänzend bewährte Magie gelingt selten, sie ist nicht kalkulierbar, eher genetische Gnade als eigene Leistung.
Um das Modell einer ‚Kunst des Alterns’ erblicken zu können, das dennoch darin angelegt ist, muß man wissen, daß Sonnemann sich auch um seine tödliche Krankheit nicht kümmerte, und ruhig starb, als sie ihm unmöglich machte, was für ihn, den Denkkünstler, zeitlebens das Wichtigste war: die selbstbestimmte produktive Arbeit.
Sich um sein Alter nicht zu kümmern, heißt eben nicht, es zu ignorieren: vielmehr, seiner Lebensaufgabe trotz der Eingriffe des Alterns in die gewohnten Handgriffe der Lebensführung unbeirrt nachzugehen.
Das Schwierigste in allen Künsten ist das Beginnen. Für die ‚Kunst des Alterns’ ist es besonders schwierig, weil sie selbst nichts anderes sein kann als eine Disziplin der Kunst des Beginnens selbst.
Auf nichts aber ist man so unvorbereitet, wie auf das, was einem so gewiß ist, wie das Alter, wenn man es erreicht, Krankheit, Unfall oder Lebensüberdruß den Lauf des Körperlebens nicht vor der Zeit beenden.
Vor dem Bild, das die alten Leute uns von unserer eigenen Zukunft zeigen, schrieb Simone de Beauvoir 1970 in ihrer großen Studie >Das Alter<, stehen wir ungläubig; eine Stimme in uns flüstert uns widersinnigerweise zu, daß uns dies nicht widerfährt: das sind nicht mehr wir, wenn es eintritt. Ehe es nicht über uns hereinbricht, ist das Alter etwas, das nur die anderen betrifft. So kann man auch verstehen, daß es der Gesellschaft gelingt, uns daran zu hindern, in den alten Menschen unseresgleichen zu sehen (Beauvoir, Alter, 8). Auch vierzig Jahre später hat sich daran nichts geändert.
Das ist um so weniger verständlich, als der Vorgang des Alterns, der so verborgen stattfindet, daß er in seiner ganzen Dimension erst wahrnehmbar wird, wenn er sein letztes Stadium erreicht hat, das gesamte Leben umfasst: vom ersten Atemzug des Säuglings an besteht es aus nichts anderem als aus ‚Altern’: indem wir leben, werden wir älter, schließlich alt. Für die längste Dauer des biologischen Lebenslaufes geschieht das fast unbemerkt. So selbstverständlich, daß der Gedanke, es gäbe etwas zu ‚lernen’, gar nicht aufkommen kann.
Das Problem sei nicht, daß man alt werde, sondern dabei jung bleibe. Dieser Satz aus dem Drehbuch zu einem jüngeren deutschen Fernsehfilm bezeichnet das Drama des Alterns genauestens. Vitalität und Erfahrung sind diachron. Hat man erst verstanden, wie es wirklich geht, zu leben, kann man es kaum noch, und meistens nicht mehr lange genug, um sein erworbenes Wissen noch anwenden und in sinnvolles Eigenleben verwandeln zu können. Sind die Kinder aus dem Haus, ahnt man, wie man sie hätte aufziehen sollen, ihnen und sich selbst zum Lebensnutzen; weiß man endlich zu lieben, hält drohendes Organversagen ab; der Wadenkrampf beim Liebesspiel ist lustig nur in Filmkomödien, daheim ein Horror: Humor ist, wenn man trotzdem liebt.
Der Mann erhebt sich ganz. Er steht vor ihr. Sie lächelt ihm zu. Noch gibt es Männer, die sie anschauen (Duras, Sommer, 100). In diesem einen, unscheinbaren Wort „Noch“ ist das ganze Drama des Alterns verdichtet: hat man begonnen, es zu bemerken, mischt sich in jede, so lange so selbstverständlich gewesene, Lebensäußerung die bange Frage: wie lange noch? Altern heißt Vergehen.
 
Ich hör und seh,
Wie mancher klagt um den Verlust des Gutes;
Ich klage meiner Jugend Tag
Und den Verlust des Mutes,
Den ich dereinst so fröhlich pflog
Und kaum empfand, wie mich die Erde trug.
Mit Schmerz und Weh
Haupt, Rücken, Hand und Fuß das Alter melden.
Was ich vergeudet ohne Not,
Herr Leib, lasst Ihr entgelten
Mit bleicher Farb und Augenrot,
Verrunzelt, grau: Mein Springen wurde klug.
Schwer sind mir Herz, Mut, Zunge, Schritt,
Gebogen ist mein Gang,
Ein Zittern schwächt mir jedes Glied,
„O weh“ ist mein Gesang –
Und so quintier ich Tag und Nacht.
Selbst mein Tenor ist runzelig gemacht.
Licht krauses Haar
Hat dich gelockt mir einst das Haupt umschlossen.
Nun fleckt es sich in schwarz und grau,
Von Kahlheit rings durchschossen.
Mein roter Mund wird mählich blau,
Selbst meine Liebste ekelt es, mich anzuschaun.
Matt, unbrauchbar
Sind meine Zähne, taugen nicht zum Käuen;
Und hätt ich aller Welten Gut,
Bekäm ich keine neuen!
Wo kaufte ich mir freien Mut,
Es wäre einzig denn in Schlaf und Traum?
Mein Ringen, Springen, Laufen schnell
Ward Stolpern nur und Sturz.
Statt Singen hust ich aus der Kehl,
Der Atem wird mir kurz.
Ich sehne mich nach kühler Erd,
Denn schwach nur bin ich noch und ohne Wert.
 
Ach junges Blut,
Merk auf und schau und trau nicht deiner Schöne,
Nicht Wuchs, nicht Kraft! Und steig empor
An geistlichem Getöne!
Was du jetzt bist, war ich zuvor.
So komm zu mir und sieh: Es reut dich nicht!
 
(Wolkenstein, Lieder, Nr. 5, S. 23 f.)
 
Als Oswald von Wolkenstein dies um 1430 schrieb, war es schon ein spätes Echo auf die erste Altersklage, die Walther von der Vogelweide zweihundert Jahre zuvor erhoben hatte, von den Vorläufern der griechischen und römischen Antike abgesehen.
 
O weh, wohin entschwand mir alle lebenszeit
war denn ein traum mein leben, war es wirklichkeit?
was ich für wahr gehalten, wars ein nachtgesicht?
da hab ich wohl geschlafen und weiß es selber nicht
nun bin ich wach geworden, und mir ist unbekannt
was mir zuvor vertraut war wie meine eigne hand
ringsum das land, die leute, die mich aufgezogen
sie sind mir fremd geworden, als wäre es erlogen
und meine spielgefährten müde nun und alt
die felder umgebrochen, gerodet ist der wald
wenn nicht da wasser flösse wie von alters her
ich glaub, dann wär mein leiden unerträglich schwer
so mancher grüßt mich träge und kannt mich früher gut
die welt zeigt allenthalben undank und wankelmut
denk ich der wonnetage, die ich so lang entbehr
die ohne spur verschwanden wie ein netz im meer
immer nur o weh
 
(Walther, elegie, S. 305)
 
Niemand bleibt verschont. Weshalb es nicht verwundert, daß in unserer Literatur nichts älter ist als die Klage über das Alter. Gegenüber der Erfahrung, daß es einen erreicht hat, scheint es nur die zwei Reaktionen geben zu können, die Jean Améry im Untertitel seines Essays >Über das Altern<  benannte: Revolte und Resignation.
Wirklich nur diese beiden? Dann bliebe zuletzt nur Verzweiflung: die Zerstörung jedes Lebenssinnes. Zu erproben, wie deren Vermeidung gelingen könne, ist der Sinn des Versuches, eine ‚Kunst des Alterns’ zu denken. Sie widerspricht der Haltung, in der unsere Gesellschaft sich als Standardumgang mit dem Alter eingerichtet hat: einer Verwahrung des Alters zum Tode. Als jugendliche Genußgemeinschaft eingerichtet, kann sie in dem Grundvorgang des Lebens, zu altern vom ersten Atemzug an, den ein Neugeborenes tut, nur noch den Schrecken der Verurteilung jedes Lebendigen zum Tod sehen, von dem sie sich hilflos abwendet, die Auffassung des Alters den Schreckensvorstellungen von Hinfälligkeit und Siechtum ausschließlich überlassend.
Wenn es eine ‚Kunst des Alterns’ geben kann, dann hat sie hier ihren Ansatzpunkt: es mit dem allgemeinen Gestaltungsunvermögen des Unvermeidlichen in individueller Anstrengung aufzunehmen.
Denn es ist eine der verhängnisvollsten Verkennungen von ‚Gesellschaft’, zu meinen, sie garantiere jedem, was er braucht. Ist sie entsprechend eingerichtet, gewährleistet sie lediglich das Notwendige für alle; nicht das dem Einzelnen Zuträgliche. Wer ihr sein Alter heute alleine anvertraute, wäre verloren in einer Gesellschaft, die im Alter nur noch Ballast und Zumutung sieht.
Die ‚Kunst des Alterns’ ist keine Kunst, die das Altern hervorbringt, nicht die Kunst alter Menschen, keine Versammlung berüchtigter ‚Alterswerke’; auch keine Kunst, die das Altern zu ihrem Thema macht, wie es in überwältigend monumentaler Manie im Lebenswerk Roman Opalkas einzigartig geschah, der sein Leben damit zubrachte, täglich seine verrinnende Lebenszeit als Sekundenfolge in aufsteigender Zahlenreihe zu malen, oder wie die Serien von Selbstportraits, die bedeutende Maler wie Rembrandt oder Max Beckmann zeit ihres Lebens anfertigten; sie ist eine Weise des einzelnen Menschen, mit seinem Altern umzugehen: es zu gestalten, statt es bloß über sich ergehen zu lassen.
Das Alter berührt sich mit der Kindheit, Anfang und Ende des Daseins sind durch ein unsichtbares Band verbunden, das das stärkste unseres Lebens ist: beide geschehen einem stärker, als man sie lebt. Das Alter spitzt die elementarste Bedingung unseres Daseins zu: seinen Charakter des Geschehens. Indem wir ‚unser’ Leben zu führen meinen, vollzieht sich vielmehr ‚das’ Leben an und in uns. Nichts macht das so unbezweifelbar wie die Erfahrung des Alterns, und nichts ist unserer Mentalität einer auf Emanzipation, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung angelegten Kultur so fremd und unzumutbar. Wir werden alt, ob wir es wollen, oder nicht, so ungefragt, wie wir gezeugt und ins Leben gebracht wurden.
Keine gesellschaftliche Herausforderung ist größer als die Aufgabe, dieses Geschick human, in Anstand und Würde zu gestalten – und von nichts ist unsere Gesellschaft weiter entfernt, als von ihrer Erfüllung.
Die akuten gesellschaftlichen Mißstände im Umgang mit den Unzumutbarkeiten des Alters täuschen darüber hinweg, daß das Alter, mit dem wir konfrontiert sind, sehr jung ist. Aus dem Glück des langen Lebens wurde das Unglück des zu hohen Alters. Als wären wir dafür nicht gemacht; als wäre dieses Ergebnis medizinischen und zivilisatorischen Fortschritts in unserer biologischen Natur nicht vorgesehen.

Lesen Sie am kommenden Sonntag Teil 2
des Textes von Dr. Andreas Steffens, den der Philosoph am 22.10.2012
als Vortrag beim Katholischen Bildungswerk Wuppertal gehalten hat.
 
© 2012 Dr. phil. habil. Andreas Steffens
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