Fahrschüler im Viehwagen

Abenteuerliches Bahnreisen nach dem Krieg

von Rudolf Engel
Fahrschüler im Viehwagen
 
Abenteuerliches Bahnreisen nach dem Krieg
 
 
Was deine Zeit als Fahrschüler betrifft, so konnte damals, so kurz nach dem Krieg, an ein normales Reisen mit der Bahn überhaupt nicht  gedacht werden. Die Personenzüge bestanden anfangs nur selten aus Personenwagen. Zumeist waren es offene Güter- und geschlossene Viehwagen. Je näher der Winter rückte, desto mehr wurde dadurch das Bahnfahren zum reinsten Abenteuer. Den wenigen noch fahrbaren Personenwagen fehlten häufig die Fensterscheiben. Da es an neuem Glas immer noch mangelte, waren die Fenster vielfach, so wie an manchem Privathaus auch, noch mit Brettern zugenagelt oder mit Pappkarton.
Dennoch war auch die Bahn sehr darum bemüht, die Mängel des Krieges so gut es in der Not eben ging zu beseitigen oder zumindest seine Spuren zu verwischen.  So war auf einem der Viehwagen auf den Planken in großen Lettern die Aufschrift gemalt: „Nie wieder Krieg! – Nie wieder Krieg!“
Man konnte jedoch an einigen Stellen noch erkennen, daß die neue Aufschrift über eine alte gepinselt war, die jeder kannte: „Räder müssen rollen für den Sieg!“
 
An einem dieser frostigen Werktagmorgen ist euer Güterzug, der Menschen transportierte, besonders überfüllt. Die Fahrgäste stehen dicht bei dicht. Über allen schwelt ein bedrückender Gestank übel verbrauchter Luft, der durch den strengen Zigaretten- und Pfeifenrauch noch verstärkt wird.
Bei deiner täglichen Eisenbahnfahrt war es daher besonders lästig, wenn du keinen der wenigen Personenwagen mehr erwischst, sondern nur einen solchen Viehwagen.
Wenngleich, langweilig ist diese Fahrt nie, zuweilen sogar recht abenteuerlich: stehend, mit dem Schulranzen auf dem Buckel, in andere Ranzen und Rucksäcke verhakt, so dicht gedrängt und dennoch fast umfallend, weil der mit schlechter Luft geschwängerte Waggon schon früh morgens einem nicht ausreichend gefüllten Magen Übelkeit verschafft.
Manchmal ist die dicke Luft in den Wagen und die Sinfonie der üblen Gerüche so unerträglich, daß einer der Fahrgäste das Wagentor ein oder zwei Handbreiten aufschiebt, um etwas mehr Sauerstoff herein zu lassen. Aber dann dringt ein derart eisiger Kältestrahl in diesen, von dicht gedrängter Körperwärme erfüllten Raum, daß einige trotz Wintermantel zu frieren beginnen und dafür sorgen, daß es bald wieder geschlossen wird. Lediglich in der kurzen Zeit, wenn der Zug auf einer Bahnstation anhält, und einige aus- und einsteigen, kann wieder für einen Moment etwas Frischluft eindringen.
Der ohnehin ständig vorherrschende Sauerstoffmangel wird noch vergrößert durch die Raucher, die ein wahres Gift um sich verbreiten. Denn normale Tabakwaren sind immer noch selten. Die Männer, die hier auf Schicht fahren, rauchen schrumpelige Zigaretten, meist aus gesammeltem Kippentabak zusammengedreht, oder sie rauchen Pfeifen, die häufig nur mit grobem Krüllschnitt aus schlecht bearbeiteten Blättern gestopft sind, ein Teufelskraut der Marke „Eigenanbau“ .
Eines Morgens stehst du in einem solchen Viehwagen zwischen zwei Männern, von denen der eine sich seine Pfeife mit dem Grobschnitt aus dem eigenen Garten stopft. Der andere hat ein niedliches kleines Pfeifchen im Mund, eher ein Kinderspielzeug und raucht es trocken. Wie der erste seine Pfeife gestopft hat, fragt ihn der zweite mit einem freundlichen Hinweis auf sein Pfeifli: - „Kamerad, darf ich auch eine stopfen?“
Jener mustert des anderen Zwergpfeife und reicht großzügig die Tabakdose herüber. Der aber greift in die Hosentasche, holt einen Riesenkloben hervor, so groß wie eine Imkerpfeife und stopft fast den gesamten verbleibenden Inhalt der fremden Tabakdose hinein. Der edle Spender ist so perplex, daß ihm beinahe die eigene Pfeife aus dem Mund gefallen wäre. Zögernd nimmt er die fast leere Tabakdose zurück. Und kaum, daß er beginnt, seiner Entrüstung in Worten Luft zu machen, fährt der Zug in Beckingen ein; der Mann mit der fremdgestopften Riesenpfeife springt aus dem Waggon und ist in der Bahnhofshalle verschwunden.
 


© Rudolf Engel – Vorveröffentlichung dieser Episode aus dem Roman
„Laura oder auf der Suche nach der verlorenen Liebe“
mit freundlicher Genehmigung des Autors in den Musenblättern 2012
Redaktion: Frank Becker