Ernst Ludwig Kirchner

Die Deutschlandreise 1925 - 1926

von Johannes Vesper
Ernst Ludwig Kirchner
Die Deutschlandreise 1925|1926

„Meine Angst vor meinem Vaterlande muß ein Ende haben“ schreibt Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) im Oktober 1925 in sein Tagebuch, bevor er aus seinem Exil  in Davos eine Reise nach Deutschland wagt.

Die Suche nach dem einfachen Leben

Seit 1917 lebte ELK in der Schweiz, nachdem er 1915 wegen Angstzuständen aus dem deutschen Militärdienst entlassen worden war. Die psychischen Probleme führten zu riskantem Zigaretten-, Absinth- und Drogenkonsum (Veronal). Stationäre Sanatoriums- Behandlungen in Königstein und Berlin werden 1915/16 erforderlich. Das Selbstporträt von 1915 als Soldat in Uniform mit Zigarette und abgehackter rechter Hand  im Atelier in Berlin-Friedenau läßt seine damaligen Probleme erahnen. Außerdem persönlich enttäuscht von seinen Brücke-Freunden – Otto Mueller hatte in Vaterlandsverräter geschimpft - wollte er Deutschland verlassen und erhielt 1917 die Genehmigung zur Ausreise in die Schweiz. Wegen seiner psychischen Probleme wurde er im berühmten „Bellevue“, dem Sanatorium von Ludwig Binswanger  (1881-1966) in Kreuzlingen, erneut behandelt.
Ab Juli 1918 lebte ELK in Frauenkirch bei Davos, das einfache Leben dort suchend. Er hatte bis zu seiner Niederlassungsbewilligung in der Schweiz immer noch gefürchtet, zum deutschen Militär eingezogen zu werden. Nach dem Ende des Weltkrieges nahmen seine psychischen Probleme aber ab und die Morphin-Dosis konnte weitgehend reduziert werden. Das Leben auf der Schweizer Alp war ruhig und erholsam. Es war überhaupt nicht vergleichbar mit dem hektischen Leben in Berlin und Dresden zuvor.

Der neue Stil

Das macht sich auch in einem veränderten Malstil bemerkbar. Er selbst hat in Tagebucheintragungen von einer „neuen Art des Sehens und Schaffens an der Hand der Erlebnisse der Berge“ geschrieben. Der neue Stil ist in seinen Bildern ab 1923 sichtbar. Nicht mehr nervös gezackte, hektisch-expressive Straßenszenen sondern ruhigere, flächige Bilder entstehen. Er arbeitet viel, raucht viel, kann sich das Rauchen nicht abgewöhnen. Es regnet viel. Melancholie kommt auf.  „So ist doch mal  eine Auffrischung durch andere Eindrücke und ein Zusammensein mit anderen Menschen erforderlich“. In ihm entsteht der Wunsch nach Deutschland zu reisen und  „die alten Stätten  wiederzusehen, wo man so glücklich und  einfach lebte“. Eine Deutschlandreise fällt ihm nicht leicht. ELK fürchtet politisch noch immer den Furor teutonicus, wie er sich im 1. Weltkrieg aufgeführt hat und hofft 1924 auf ein einiges Europa, in dem dann Kriege nicht mehr möglich seien. Persönlich bestehen große Ressentiments gegenüber seinen ehemaligen Brücke-Freunden in Deutschland: Max Pechstein, (1881-1955), Otto Mueller (1874-1930), Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) und Erich Heckel (1883-1970), denen er vorwirft, daß sie ihn kopieren, im schaden wollen und ihn verleumden. Andererseits  interessiert ihn natürlich brennend seine eigene Stellung in der Kunstszene Deutschlands.

Sehnsuchts-Reise

Er verläßt  am 18.12.1925 Davos und fährt über Zürich nach Frankfurt/Main, wo er die Ausstellung seiner Werke im Kunstsalon Schames sehen wollte. Der weltoffene Ludwig Schames (1852-1922) war für ELK der wohl wichtigste Kunsthändler. In seinem „Kunstsalon Ludwig Schames“ - unter diesem Namen seit 1913 - förderte er schon früh die deutschen Expressionisten und später auch Max Beckmann. Ludwig Schames hatte bereits 1916 eine große Ausstellung mit Werken KIrchners gezeigt. In Frankfurt wollte ELK auch einen seinen wichtigsten Sammler und bedeutenden Mäzen, den Chemiker Dr. Carl Hagemann, treffen, den er wahrscheinlich 1913 anläßlich seiner ersten Ausstellung im Hagener Museum Folkwang kennengelernt hatte. Das geplante Treffen in Frankfurt  kam leider nicht zustande. Im Städelschen Kunstinstitut sah ELK sein Selbstbildnis in Uniform von 1915 wieder. Das Bild wurde zusammen mit anderen seiner Bilder 1919 für Frankfurt erworben. Nur Carl Ernst Osthaus in Hagen hatte schon früher während des 1. Weltkrieges  Kirchner-Werke für sein Hagener Folkwang-Museum gekauft.

Von Frankfurt/M. nach Chemnitz

Am 29.12.1925 reiste ELK weiter nach Chemnitz, der Stadt seiner Jugend. Von 1890-1901 war er dort in die Schule gegangen, hatte Abitur gemacht, und von dort aus startete er zum Studium nach Dresden. Jetzt wollte er in Chemnitz seine Mutter besuchen. Sie wohnte auf dem Kaßberg, dem großbürgerlichen Stadtviertel mit Gründerzeitvillen und Alleen. Chemnitz spielt im Werk Ernst Ludwig Kirchners eine gewisse Rolle. Die Chemnitzer Kunstsammlung, deren Eröffnungsausstellung 1909 der „Brücke“ gewidmet war, hatte schon zu Beginn der 20er Jahre  Bilder von Kirchner gekauft und verfügte 1925 über den bedeutendsten Bestand im öffentlichen Besitz von Kirchner-Bildern in Deutschland. Einige seiner Bilder in der Chemnitzer Sammlung waren in einem schlechten Zustand, weswegen ELK die Restaurierung anbot und auch durchführte. Diese Restaurierungen gingen

Kirchner - Wohnzimmer mir zwei Mädchen 1908/1926
teilweise weit über eine Wiederherstellung der Bilder hinaus und entsprachen mehr einer kritischen Überarbeitung bzw. einer Veränderung der Bilder seines Frühwerks im Sinne seines neuen, gemäßigten, ruhigen und flächigen Malstils seit 1923. Wegen der von Kirchner selbst durchgeführten Übermalungen und Restaurierungen etlicher früher Werke findet man in solchen Fällen zwei Entstehungsjahre angegeben (siehe „Wohnzimmer mit zwei Mädchen“ in den Fassung 1908/1926). In Chemnitz trifft ELK seinen Brücke-Kollegen Karl-Schmidt-Rottluff wieder und auch Henry van de Velde und zwar anläßlich eines Abendessens in der von van de Velde entworfenen Jugendstil-Villa Esche (die übrigens heute wieder vollständig restauriert in altem Glanze strahlt und jederzeit einen Besuch lohnt). Künstlerisches Ergebnis des Kirchner-Besuchs in Chemnitz sind u.a. die Bilder „Mutter und Sohn“ (Nachlaß Ernst Ludwig Kirchner) und das Bild  „Chemnitzer Fabriken“, einem Blick vom Kaßberg hinunter auf das sächsische Manchester entsprechend (Sammlung Deutsche Bank).

Dresden

Am 20.1.1026 reiste ELK weiter nach Dresden, wo er Will Grohmann traf, der 1925 ein erstes Buch über Kirchner geschrieben hatte. Kirchner hat Will Grohmann mehrfach gezeichnet und die Paare Kirchner und Grohmann  als „Boeheme moderne“ (Museum of Modern Art) nach einem Besuch Grohmanns in der Schweiz gemalt. Kirchner hatte sich von den Verbindungen Grohmanns und seinem Besuch in Dresden eine Professur an der dortigen Kunstakademie erhofft, die ihm eine Rückkehr nach Deutschland erleichtert hätte. Dessen Kontakte reichten aber nicht. Kirchner besuchte in Dresden eines seiner wichtigsten Modelle der Brücke-Zeit, die inzwischen mit zwei unehelichen Kindern  in ärmlichen Verhältnissen lebende Artistentochter Fränzi Fehrmann, deren weiterer Lebensweg nicht bekannt ist. Über Will Grohmann lernte Kirchner in Dresden die große Tänzerin Mary Wigman kennen. Nahezu täglich saß er skizzierend bei den Proben ihrer Tanzgruppe. Diese Skizzen von Tod, Totentanz und Sexualität aus den Produktionen von Mary Wigman sollten in ihm noch lange nachwirken. Kirchner hatte  seit Dresden das Malen aus der Erinnerung  heraus forciert und gepflegt. Er hoffte, daß mit wachsendem zeitlichem Abstand „das Wichtige vom weniger Wichtigen scheiden und neue Phantasien erzeugen“ (Tagebuch) werde. Viele seiner Gemälde 1926 und danach sind aus der Erinnerung heraus entstanden, also nicht vor dem Motiv stehend oder sitzend wie vor 1915.

Berlin

Am 17.2.1926 kam Kirchner in Berlin an, wo er bei seinem Bruder Walter Kirchner  wohnte. In Berlin traf er überall auf Werke seiner „Brücke“-Kollegen, die inzwischen erfolgreich verkauft hatten. “Es ist wirklich eine Schweinerei, ich arbeite und erfinde Neues und verkaufe nichts, und die Nachtreter (seine Brücke Kollegen sind gemeint!) machen gutes Geschäft mit meinen Sachen, die sie stehlen“. Trotz seiner heftigen und bleibenden emotionalen Auseinandersetzung malt Kirchner aus der Erinnerung 1926 „eine Künstlergruppe“ (Otto Mueller, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff). Die vier schauen jeder in eine andere Richtung. Das Bild  hängt im Kölner Museum

Ernst Ludwig Kirchner - Chemnitzer Fabriken
Ludwig. In Berlin traf Kirchner den Kunsthistoriker Edwin Redslob, der als Reichskunstwart seit 1920 großen Einfluß in der Berliner Kunstszene besaß. Kirchner besuchte auch Liebermann in seinem Haus neben dem Brandenburger Tor, den er nach der Rückkehr in die Schweiz aus der Erinnerung heraus seinem Atelier stehend malte. Ein Ergebnis seines Besuches in Berlin war die Ausstellung bei Paul Cassirer im November 1926, die beim Publikum aber nicht recht ankam. Anscheinend schätzte das Publikum die Nervosität und Vibration der frühen Jahre mehr als die farbig-dekorativen Bilder seines neuen Stils. „Die Cassirer-Ausstellung Berlin wird sehr angefeindet, man kann die neuen flächigen Bilder nicht verstehen“ (Tagebuch 20.11.1926). In den Berliner Museen  studierte Kirchner die alten Meister, kopierte oder malte nach Dürer und Rubens. Bei Besuchen im Kupferstichkabinett konnte er einige Radierungen verkaufen.
Kirchner reiste in die Schweiz zurück in dem Bewußtsein, daß seine Arbeit die eigentliche in Deutschland sei, und er mit seiner Resonanz in Deutschland zufrieden sein könne. Er schreibt an seinen Freund Schiefler am 1.April 1926: „Warum diese Verehrung heute? Ich freute mich, wie gut meine Bilder in den Sammlungen wirkten“. 

Das Buch: sorfältig und opulent

Der Deutschlandreise Ernst Ludwig Kirchners 1925/1926  widmet sich der von Ingrid Mössinger und Beate Ritter sorgfältig herausgegebene opulente Band, der jetzt bei Wienand erschienen ist. Die engen biographischen wie künstlerischen Beziehungen Kirchners zu Chemnitz – auch Schmidt-Rottluff und Heckel gingen dort zur Schule -  sind vielleicht ein Grund dafür, daß sich die Generaldirektorin und die Kuratorin der Kunstsammlungen Chemnitz dieser Aufgabe angenommen haben. Großformatige Katalogbilder, zusätzliche Abbildungen und Photographien ergänzen die fundierten Textbeiträge von Dr. Karin Schick (Direktorin des Kirchner-Museums Davos), Dr. Mario-Andreas von Lüttichau (Kurator am Museum Folkwang Essen), Dr. Hanna Strzoda  und Dr. Indina Woesthoff. Warum die Familie Kirchner 1880 nach Chemnitz zog, erläutert Prof. emeritus Friedrich Naumann in seinem Beitrag über den Vater Ernst-Ludwig Kirchners. Für den Interessierten ist das umfangreiche Literaturverzeichnis eine Fundgrube.

Postscriptum: Chemnitz, jene im 2. Weltkrieg und durch den Städtebau in der DDR weitgehend zerstörte Stadt, hat aus dem Kontrast bedeutender neu entstandener moderner Architektur (Beispiel Kaufhof von Helmuth Jahn) mit der verbliebenen Architektur vom Anfang des 20. Jahrhunderts (Beispiel: Villa Esche von van de Velde, Theater-Platz mit Oper und Kunstsammlung, Kaufhaus

ELK als Soldat im Atelier 1915
Schocken von Erich Mendelssohn) wieder Profil gewonnen. Das Studium des besprochenen Bandes könnte dazu anregen, in Chemnitz die Spuren Ernst Ludwig Kirchners zu suchen.

Ernst Ludwig Kirchner
Die Deutschlandreise 1925/1926
Hrsg. von Ingrid Mössinger und Beate Ritter
© 2007 Wienand Verlag
288 Seiten, 24 x 30 cm, gebunden mit farb. Schutzumschlag, 130 farbige und 77 s/w Abbildungen, 49,90 €

© Johannes Vesper - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
Redaktion: Frank Becker