Mit Gedichten durchs Jahr

Ein lyrischer Kalender mit 365 Gedichten

von Robert Sernatini

Umschlagillustration von Tomi Ungerer
Lyrik-Leselust
 
Ein jeder von Ihnen täte, was ich sogleich tat, als ich diese ich weiß nicht wievielte, dennoch wundervolle Lyrik-Anthologie in die Hand nahm: ich schaute nach, welches Gedicht für meinen Geburtstag ausgewählt worden ist. Und ich war´s zufrieden. Sie werden es ebenfalls sein, sich beim Lesen verlieren, Neues entdecken und Altes wiederfinden. Überwiegend aus dem lyrischen Werk deutschsprachiger Autoren zusammengestellt, macht Mit Gedichten durchs Jahr" u.a. aber auch Ausflüge nach Frankreich, England, China, Polen, Italien und in die USA.

Mit Günter Eichs Zweizeiler „Stille Post für jedes Jahr“ läutet Herausgeber Daniel Kampa das Jahr ein. Den Frühling, der jetzt für lange Zeit am 20. März beginnen wird – nicht wie zu meiner Kinderzeit und wie ich und Sie vielleicht auch noch in der Schule gelernt haben am 21. März – begrüßt Friedrich Hölderlins „Hälfte des Lebens“, eigentlich ja ein Herbstgedicht.
Da der 20. März aber auch Hölderlins Geburtstag ist, lassen wir das gerne gelten, zumal es schließlich eines der schönsten Gedichte deutscher Sprache ist. Überhaupt zeigt die Sammlung, die Daniel Kampa zusammengestellt hat, seinen erlesenen Geschmack.
 
Hälfte des Lebens
 
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Friedrich Hölderlin
(1770-1843)

Der Herbst beginnt dafür ganz passend am 22. September mit Rainer Maria Rilkes „Herbsttag“. Beide gehören zu den schönsten Gedichten deutscher Sprache.
 
Herbsttag
 
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren Lass die Winde los.
 
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
Dränge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.
 
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
 
Rainer Maria Rilke
(1875-1926)

Mit Ringelnatzens „Psst!“ läßt Daniel Kampa das Jahr gedankenvoll enden, wobei er zugleich die leise Seite des gelegentlich polternden und handfesten Dichters zeigt.
 
Psst!
 
Träume deine Träume in Ruh.
 
Wenn du niemandem mehr traust,
Schließe die Türen zu,
Auch deine Fenster,
Damit du nichts mehr schaust.
 
Sei still in deiner Stille,
Wie wenn dich niemand sieht,
Auch was dann geschieht,
Ist nicht dein Wille.
 
Und im dunkelsten Schatten,
Lies das Buch ohne Wort.
 
Was wir haben, was wir hatten,
Was wir - -
Eines Morgens ist alles fort.
 
Joachim Ringelnatz (d.i. Hans Gustav Bötticher)
(1883-1934)
 
Auch an die Schaltjahre wurde mit Erich Kästners „der 13. Monat“ gedacht. Dieses Buch macht wieder Lust, Lyrik zu lesen. Am besten stellen Sie es ins REgal ganz dicht bei Ihrem Lieblingsleseplatz oder griffbereit neben den Eßtisch. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Mit Gedichten durchs Jahr – Ein lyrischer Kalender mit 365 Gedichten
Ausgewählt von Daniel Kampa
 
© 2012 Diogenes Verlag, detebe 24179, 508 Seiten, Broschur, Quellennachweis, Verzeichnis der Dichter, Kalendarium - ISBN 978-3-257-24179-2
11.90 € (D) / 12.30 €  (A) / sFr 17.90*
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch