Tod eines Bescheidenen

von Karl Otto Mühl
Tod eines Bescheidenen
 
In den letzten zwei Wochen sind zwei alte Freunde von mir hintereinander an einer Lungenkrankheit gestorben. Beide rangen bereits nach Luft, als ich mit ihnen telefonierte. Ich bin froh, daß sie es hinter sich haben.
Der zweite war vor fünfundvierzig Jahren mein Kollege. Er fiel mir damals gleich auf, weil er immer den „unteren Weg“ ging, er war extrem bescheiden. Dennoch fühlte ich immer, daß er nie Verlierer war, daß ihm niemand etwas anhaben konnte. Radikale Bescheidenheit macht unverwundbar. Er hat es vorgelebt und vorgelitten, Karl, der im Angerland wohnte.
Heute sollte die Trauerfeier für den Bescheidenen sein.
Während wir in den Nachbarort fuhren, wo alles stattfinden sollte, dachte ich daran, daß er mir gleich am ersten Tag, als ich in die neue Firma kam, in der er bereits arbeitete, durch seine Offenheit auffiel. Wir hatten schon von diesem Tag an ein vertrauensvolles Verhältnis, das bis heute gedauert hat. Er war nicht nur besonders bescheiden, er war auch besonders zuverlässig und treu. Bescheidenheit vergoldet bei solchen Menschen die Treue.
Ich fühlte ihn nicht ferngerückt. Je älter ich werde und näher zum Ende komme, desto näher fühle ich mich den Verstorbenen.
 
Die Trauerkapelle war gefüllt mit Trauergästen, einige mußten stehen. Zuletzt zogen die Verwandten ein. Bei mehreren von ihnen bemerkte ich starke Ähnlichkeiten mit ihm, dessen Großfoto auf einer Staffelei vor dem Altar stand. Seine Witwe kam weinend durch den Mittelgang, hinter ihr die Enkel, die ebenfalls weinten.
Nach kurzem Schweigen trat sein Sohn nach vorne und begann seine Trauerrede. Er sprach leise und ohne Pathos, aber es war unverkennbar, daß er seinen Vater liebte.
Später erfuhr ich, daß er Topmanager in einem Konzern ist. Das ließ er sich nicht anmerken, und mein verstorbener Freund hatte auch nie mit seinem erfolgreichen Sohn geprahlt. Aber die Liebe und Nähe des Toten war in der ganzen Familie spürbar. Er hatte sie sein Leben lang ausgestrahlt und hinterlassen. 
Manchmal erkennt man die Zinsen doch, dachte ich.
 
Beim Leichenschmaus zogen Freundlichkeit und Frieden in den Raum. Laß dich nicht beruhigen, dachte ich. Der Mensch ist eine Flamme, die sich durch die Lebensjahre vorwärts frißt. Sobald er versucht, sich bequem einzurichten, kränkelt sein Geist: „Habe nun Ruh, liebe Seele, iß und trink …“ und die Antwort: lautet: „Du Narr. Heute Nacht will ich Deine Seele von dir fordern.“
 
 
 
© 2012 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern