Rhein und wahr

Tagebuchnotizen

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Gibt es noch die Poesie der Unschuld?
und
Krokodile im Lippesee



1. Oktober: Wo sind die Heiligen? Wer wandelt in Unschuld? Die klaren Gedanken zerstören den Zauber. Die alte Fotokiste offenbart unser Verrohen. Wie ging man früher durch die Welt. Bescheidenheit und Demut sind keine guten Event-Manager. „Da ist doch kein Film drin“, sagte meine Mutter, wenn man einen Fotoapparat auf sie richtete. Man konnte sie beim Staunen erwischen, wenn es etwas zum Staunen gab. Heute ist niemand mehr überrascht. Alle ersparen sich unschuldige Gemütsanstrengungen. Das Wissen erspart uns die Überraschungen. Nieder mit den Fakten. Nieder mit den Erklärungen. Alle gehen aus sich heraus. Man stellt sich in Pose und grimassiert. Genügt diese Respektlosigkeit, um den Wundern zu begegnen? Der Zauber der Poesie stirbt. Poesie hat mit Unschuld zu tun. Ein guter Fotograf weiß das. Die Kunst der Fotografie besteht im Festhalten unverfälschter Augenblicke. „Wir sind der  Wahrheit auf der Spur.“ Wo ist das Wunder der Verträumtheit? Wir trauen nur der Angst vor dem Tod. Kleine Kinder sind noch überrascht, aber zählt das?
 
3. Oktober: Ein Fahrradfahrer fragte uns nach dem Weg zum Lippesee. Wir saßen zufällig am gleichen Tisch und tranken einen Kaffee. Der Kiosk hatte einen Tisch vor seiner Ausgabe stehen und wer einen Kaffee trank, saß an dem Tisch. „Wie komme ich zum Lippesee?“ Wir überlegten gemeinsam, welchen Weg man dem Sportler empfehlen könnte. Es gab drei Wege zum See, alle hatten ihre Reize. Ich setzte mich schließlich durch und beschrieb den landschaftlich schönsten Weg, wenn er auch ein wenig länger war. Auch Sportler haben ein Recht auf schöne Umgebung. Der Mann fuhr schließlich los. Wir winkten und schauten ihm lange nach. Da hatte unsere zusammengewürfelte Truppe jemanden auf den richtigen Weg geschickt. Da fuhr einer in unserem Namen los und hatte ein Ziel vor Augen.. „Hoffentlich kommt er heile an“, sagte ich. „Der Lippesee wird manchmal von Krokodilen genutzt.“
 
4. Oktober - Drei Verkehrsüberlegungen: a. Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als der schöne Augenblick, in dem man manchmal verweilt. Mitten in der klassischen Musik meldet sich der Verkehrsfunk: „Hier ist WDR 2 mit einer Warnmeldung. Die Führerscheinbesitzerin Ute Rambacher fährt heute mit dem Auto ihres Vaters auf der A1. Fahren sie bitte äußerst vorsichtig und warnen sie die anderen Verkehrsteilnehmer durch deutlich Lichtsignale“.
b. Es ist interessant, daß Fahrradfahrer durchaus gegen die Unterdrückung von Minderheiten in der dritten Welt sind, aber mit ihrem Fahrrad jeden umfahren würden, der ihre Kreise stört. Besteht da nicht ein Widerspruch oder empfindet man den nicht so, wenn man es eilig hat?
c. Er hatte sein Fahrrad mit einer Giftschlange gesichert.


© 2012 Erwin Grosche - Erstveröffentlichung in den Musenblättern