Rhein und wahr

Tagebuchnotizen

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Brötchen
oder
Die Gewissensfrage


16. September: Gerda wollte, daß ich ihr von Bohley ein Brötchen hole. Ich habe ihr gesagt, daß man sich bei Bohley kein Brötchen holen kann, wenn man vorher ein Brot bei Zarnitz gekauft hat. Bäcker Bohley hat doch auch ein Herz und ist nicht blind? Bohley denkt doch, daß Brot von Zarnitz wäre mir lieber als das Brot von Bohley. Er muß doch, wenn er das Broteinschlagpapier von Zarnitz sieht, vermuten, daß ich ihn nur benutzen will, um mir ein Brötchen von ihm zu holen. Wahrscheinlich denkt er sogar, daß ich mir das Brötchen auch lieber von Zarnitz geholt hätte, aber beim Kauf des Brotes dieses Bedürfnis noch nicht gespürt habe. Gerda sah meine Bedenken natürlich nicht ein und schaute mich den ganzen Tag nicht an. Einen gewissen Takt kann man doch erwarten. Mir hat mal eine Mitarbeiterin von Linnemanns gestanden, daß sie es unmöglich findet, wenn die Leute mit ihren Thaliatüten zu ihnen kommen, um dann die Toilette zu benutzen. Bücher kaufen bei Thalia und Toilette benutzen bei Linnenmann? Das geht doch gar nicht.
 
17. September: Bevor ich mir überlege, wie man tätowiert schreibt, tippe ich es einfach auf den Bildschirm. Das Wort wird eh nur in Kreisen benutzt, denen es letztendlich egal ist, wie man dieses Wort schreibt. Ich möchte nicht wissen, wie viele Rechtschreibfehler dort auf blanker Haut eintätowiert wurden. Fak ju!
 
20. September: Rentnerdasein: Alle zogen mit ihren Sitzkissen zu den harten Holzbänken und bestellten sich eine Apfelschorle.
 
21. September: Ich bin vom Glücklichsein manchmal so erschöpft, daß ich heulen könnte. „Verdammtes Glück, laß mich in Ruh und wende dich den andern zu.“ Verdammtes Glück. Nichts gegen das Glücklichsein, aber man kann doch nicht immer nur glücklich sein. Kaviar wird auf Dauer doch auch langweilig. Zu viel Glück ist auf Dauer nicht auszuhalten. Was gibt es Schlimmeres als eine permanente Glücksplage? Wenn ich morgens aufstehe und bin schon glücklich, dann schrei ich erst mal meinen Mann an, um überhaupt wach zu werden. Mein Chef sagt immer, zuviel Glück stört den Betriebsfrieden. Einmal hab ich vor Glück einen Freudensprung gemacht und hab es gleich danach im Rücken gehabt. Gestern war ich auch so glücklich, das habe ich gar keinem erzählt, um noch für voll genommen zu werden. Wenn die Kinder sehen, daß ich glücklich bin, tanzen sie mir auf dem Kopf herum. „Hat es dich wieder erwischt?“, fragt mein Mann immer, „das G L Ü C K?“ Ich sage dann: „J A - also: Ja!“ Wir buchstabieren manche Wörter, damit die Kinder die Welt verstehen und nicht beunruhigt werden. Das Glück braucht nicht zu glauben, daß ich nur wegen ihm meine Probleme verdrängen werde. Gestern mußte ich für meinen Personalausweis ein neues Paßfoto machen. Und jetzt darf man doch auf Paßfotos nicht mehr lachen. Machen sie das mal, wenn sie so glücklich sind!
 


© 2012 Erwin Grosche - Erstveröffentlichung in den Musenblättern