Keine Amok-Prophylaxe

Plötzlich war er aus der Welt gefallen Ein Stück von Michael Müller für Jugendliche ab 14 Jahre

von Martin Hagemeyer
Keine Amok-Prophylaxe
 
Das Kinder- und Jugendtheater schaut
auf die inneren Kämpfe eines Amokläufers
 
Plötzlich war er aus der Welt gefallen
Ein Stück von Michael Müller für Jugendliche ab 14 Jahre
 
Inszenierung: Katja Leibold-Büchmann - Ausstattung: Laurentiu Tuturuga - Musik: Stefan Leibold - Regieassistenz: Karola Brüggemann
Besetzung: Karl: Tim Neuhaus – Johann (genannt Mut): Tom Raczko – Helena, Frau Hagemann, Saskia: Barbara Büchmann
 
Wieder einmal hat das Wuppertaler Kinder- und Jugendtheater sich mit jugendlichen Darstellern eines Themas angenommen, das im Zusammenhang mit Heranwachsenden unserer Zeit vieldiskutiert ist: Amoklauf an Schulen. Doch Vorsicht: Vom neuen Stück „Plötzlich war er aus der Welt gefallen“ von Michael Müller zu sagen, es biete, da so „nah dran“ an der Jugend, eine besonders erfolgversprechende Amok-Prophylaxe, wäre doppelt falsch. Erstens träfe das sicherlich weder den Kern noch die Absicht der Inszenierung von Katja Leibold-Büchmann. Und zweitens wäre man als Zuschauer mit dieser Erwartung am Ende wahrscheinlich enttäuscht, vielleicht sogar empört. Denn was in diesem Schauspiel vor allem interessiert, sind vielmehr die Gewissensnöte des jungen Karl, und was sein Vergehen vor Jahren war: Er hat seinen Freund verraten, indem er nicht wie vereinbart mit ihm Amok lief.
 
Darum scheint es in der Vorlage des Autors und Dramaturgen Müller zu gehen, die von Karls Spurensuche zusammen mit seiner Freundin Helena erzählt – an seiner alten Schule, dem Tatort vor fünf Jahren. Und darum geht es offenbar erst recht der heutigen Regie: Mit dem großartigen Tim Neuhaus tritt hier ein Karl auf, der auch in seiner Gesamtwirkung nicht strikt zu trennen ist von Johann, dem Täter (Tom Raczko) – genannt „Mut“ (für „Mutant“). Beide eint schon in der Figurenzeichnung die Abgrenzung zur Restwelt: Ohnehin jeweils eher Einzelgänger an der Schule, gehen sie immer mehr auf Distanz zu Mitschülern, Lehrern, Eltern und konzentrieren sich auf gewalttätige Computerspiele. Über Johann ist die Aussage „Der ist natürlich total abgefreakt, aber kein Idiot“ noch die bei weitem wohlmeinendste Bezeichnung aus seiner Umwelt; und er ergeht sich in purer Verachtung für all die „Ferngesteuerten“ und „Kopfamputierten“. Tom Raczko spielt ihn beängstigend klar in seiner Kühle und Entschlossenheit. Aber: Der grimmige Karl wirkt eben kaum weniger gefährlich. Hier haben sich zwei gefunden.
Deutlich wie nie wird das, wenn die Inszenierung die beiden gemeinsam musizieren läßt (Musik: Stefan Leibold): Wenn Mut und Karl zwischen ihren Mordplänen die Klampfe zücken und die Zeile „In their heads / They are dying“ von den Cranberries oder „I Like Guns“ anstimmen, erscheinen sie fast wie Sonnyboys am Lagerfeuer – den Zuschauer schaudert `s. Nicht als Dämonen zeigen sich hier die Killer in spe, sondern vereint in ihrem Weltekel.
 
Das Stück ist komplex. Das gilt auch für seine weiteren, bisher nicht näher vorgestellten Figuren: Karls heutige Freundin, die auch Mut einst für ein besonderes Mädchen hielt, bis er nach einigen Vorfällen haßerfüllt über sie sagte: „Sie ist genauso wie all die anderen.“ Aus seinem Mund ist das ihr Todesurteil. Und die Lehrerin, die zum einfachen Feindbild nicht taugt: Zum einen sucht sie einen Zugang auf Augenhöhe zu ihren Schülern – mit jugendlichem Auftreten und Sprüchen wie „Schule rockt“, was bei Mut und Karl allerdings nur als Anbiederung ankommt. Zum anderen ist sie verletzlich und beginnt erst dann, Mut zu schikanieren, nachdem dieser sie selbst beleidigt hat. Daß beim Kinder- und Jugendtheater mit Barbara Büchmann eine Darstellerin diese beiden Figuren spielt, und zwar mit einer ähnlichen Mischung aus Berechnung und gutem Willen: Vielleicht macht es Mitschülerin wie Lehrerin nur noch stärker zum einheitlichen Symbol – für die suspekte Allgemeinheit, zu der Karl und Mut sich frontal stellen.


Tim Neuhaus und Barbara Büchmann - Foto © Karola Brüggemann
 
Am Ende des einstündigen Stücks „Plötzlich war er aus der Welt gefallen“ steht nicht die Frage: „Wie verhindert man Amokläufe?“ Vielmehr fragt Karl sich und Helena: „Würde Mut mich verstehen?“ Ein brutales Freundschaftsdrama mit aktuellem Anlaß.

Weitere Informationen und Termine unter: www.kinder-jugendtheater.de
 
Redaktion: Frank Becker