Eine schmerzliche Lücke endlich geschlossen

"Sing! Inge, sing!" - Ein Film und eine CD von Marc Boettcher über Leben und Werk der Jazz-Sängerin Inge Brandenburg

von Frank Becker

© Silver Spot Records
Sing! Inge, sing!
 
(Why not take all of me…)
 
Ein Film über das dramatische Leben
der Sängerin Inge Brandenburg
 
Ein Zufallsfund führte nicht nur dazu, daß diese berührende Dokumentation über die größte deutsche, viele sprechen auch von der größten europäischen Jazz-Sängerin des 20. Jahrhunderts, entstehen konnte – er offenbarte zugleich die ganze Tragik eines von Zwängen, Fehleinschätzungen und Unrecht überschatteten Lebens. Als der Sammler Thomas Rautenberg vor einigen Jahren auf einem Münchner Flohmarkt zunächst ein Album mit teils signierten Fotos einer ihm völlig unbekannten Sängerin fand, die ihn jedoch merkwürdig berührte, hakte er nach und konnte - neugierig geworden - Zug um Zug mehr aus dem dort verhökerten Nachlaß erwerben. Diese Weitsicht ist kaum hoch genug einzuschätzen, handelte es sich doch um das, was vom Leben und der Karriere der großen Inge Brandenburg (1929-1999) geblieben war.
Gemeinsam mit dem Musikfachmann und engagierten Filmemacher Marc Boettcher (wir haben Ihnen in den Musenblättern bereits seine brillanten Dokumentationen über Bert Kaempfert und Gitte Haenning vorgestellt) setzte Rautenberg die Recherchen fort. Mit der Zeit und der Hilfe vieler Zeitzeugen *), Tagebuchaufzeichnungen, Interviews, O-Tönen von Inge Brandenburg und Archivaufnahmen konnten die beiden ein berührendes Portrait der Inge Brandenburg zeichnen, die das Zeug hatte, sogar zu den weltweit größten Stars ihres Genres gehören zu können. Warum es dazu nicht kam und wie Leben und Karriere der Inge Brandenburg verliefen, erzählt Marc Boettchers mit dem Prädikat „Wertvoll“ ausgezeichneter Film „Sing! Inge, sing!“.
*) u.a. Dusko Goykovic, Emil Mangelsdorff, Harald Banter, Fritz Rau, Max Greger, Wolfgang Dauner, Joki Freund, Peter Herbolzheimner, Udo Jürgens, Hans Koller, Knut Kiesewetter, Klaus Doldinger, Charly Antolini
 
Anfänge
 
Nach einer von vermutlich politisch begründeten familiären Belastungen und Heimerziehung geprägten Kindheit und Jugend steht die 16-jährige Inge Brandenburg allein im Leben – und schlägt sich durch. Die schon früh von Pädagogen erkannte, jedoch zuvor nie geförderte musikalische Begabung des Mädchens sucht sich nach verschiedenen bürgerlichen Jobs in der vom Swing und Jazz vibrierenden Clublandschaft der US-Besatzungszone in Bayern und Hessen ihr Ventil. Mit passablen Erfolgen: die attraktive junge Frau von mittlerweile Anfang 20 wird als Band-Sängerin engagiert und begeistert die Soldaten durch ihr Alt-Timbre und den amerikanischen Gesangsstil, den sie nach eigenem schmunzelnden Bekennen ihren US-Vorbildern abgeschaut, besser: abgelauscht hat. Hört man ihre frühesten erhalten gebliebenen Aufnahmen, muß man anerkennend mit der Zunge schnalzen. Ja, Inge Brandenburg konnte es. Sie hatte das Zeug, das die ganz Großen haben. Erkannt wurde das schnell auch von Veranstaltern, die ihr 1954 ein viermonatiges Engagement im größten Club der US-Garnison in Tripolis/Libyen und 1957 eine achtmonatige Auftrittsserie in Schweden verschafften, wo sie als „Deutschlands zweitbeste Jazz-Sängerin nach Caterina Valente“ propagiert uns als „das deutsche Mädchen mit der schwarzen Stimme“ gefeiert wird. Es sollte ihr später übrigens ebenso wie der Valente ergehen, indem sie von Produzenten und Plattenfirmen und des schnöden Mammons Willen für den platten Schlager verschlissen wurde. Die Valente konnte daraus Kapital und Popularität schlagen – Inge Brandenburg nicht.
 
Durchbruch in Deutschland
 
Das 6. Jazz-Festival des Hessischen Rundfunks1958 brachte ihr auch den Durchbruch in Deutschland. Sie wird zur „First Lady des Jazz“ in Deutschland, zugleich beginnt für sie eine schwere Zeit, denn sie erweist sich als nicht einfach im Umgang. Boettchers Film läßt eine von bedingungslos schwärmenden alt gewordenen Musikern, Veranstaltern, Journalisten und Jazz-Kennern aufmarschieren, die alle in den höchsten Tönen von ihr schwärmen. Doch keiner hat es vermocht ihr zu helfen, als sie später dringend auf solche Hilfe angewiesen gewesen wäre. Ende 1958 bekommt Inge Brandenburg Rundfunkaufnahmen mit den All-Stars, das waren Albert und Emil Mangelsdorff, Joki Freund, Freddy Christmann, Pepsi Auer, Peter Trunk, Rudi Sehring und Conny Jackel. Ihr neuer Lebensgefährte, der AFN-Moderator Charlie Hickman bringt sie u.a. mit Stan Getz, Anita O´Day und Chet Baker zusammen und verschafft ihr 1959 die ersten Fernsehauftritte. „Body and Soul“, eine tolle Inszenierung, ist u.a. auf der DVD zu sehen und zu hören. Oder war sie für ihn nur Mittel zum Zweck? Die Beziehung zerbricht später, wie andere zuvor. Sie singt beim RIAS bei Werner Müller vor, bekommt einen Plattenvertrag bei der DECCA und reist 1960 zum ersten Europäischen Jazz-Festival nach Juan-les-Pins. Die Außenseiterin wird Siegerin. Noch 1960 folgt Knokke, mit dem deutschen Schlager-Team. Das Team gewinnt. Ihr angeborener Jazz, die Tiefe, die Sprödigkeit ihres Vortrags begeistert – doch ihre erste Platte bei DECCA wird eine Schlagerplatte, ihr erster Film ein klischeebeladener Schlagerfilm „Ein Stern fällt vom Himmel“. Das aber war nicht sie.
 
Why not take all of me…
 
Einhellig sind die Kollegen von damals nach wie vor der Meinung, Inge Brandenburg sei die beste Jazz-Sängerin Europas geworden, vergleichen sie mit Billie Holiday und Ella Fitzgerald und bescheinigen ihr allerhöchstes Talent, aber auch, daß sie wohl aber auch von allzu vielen (Geschäfts-)Partnern ausgenutzt wurde. Doch in der Tat hatte sie von allen das Beste: die Eleganz, den Glamour und die Souveränität von Anita O´Day, das Timbre von Ella Fitzgerald und die Seele von Billie Holiday, zu der sie sogar eine tiefe innere Verbindung gehabt haben muß. Zwei phantastische Sängerinnen, zwei gebrochene Charaktere, zwei tragische Karrieren. Nach DECCA drückte ihr auch das neue Label Polydor den Schlagerstempel auf. Der Jazz geriet ins Hintertreffen, daran ändert auch ein kurzes Engagement nach New York nichts. CBS folgte als Plattenfirma. Die Zusammenarbeit zerbricht an einem Prozeß, den Inge Brandenburg gegen sie führt, um den vertraglich zugesicherten Jazz produzieren zu können. Sie schreibt eigene Texte, einer Mascha Kaléko würdig, die jedoch im wesentlichen unbeachtet bleiben. 1966 vermittelt ihr Ottokar Runze ein Theaterengagement, schließlich hat sie bei ihren Fernsehaufnahmen auch dafür Talent bewiesen. Sie spielt am Schillertheater, trinkt, gerät in Auseinandersetzungen auch mit der Polizei. Sie hatte das stimmliche Potential einer Knef, aber niemand gab ihr eine Chance. Von nun an ging´s bergab. Auch die zeitweise Hinwendung zur deutschsprachigen Gospelmusik bringt keinen kommerziellen oder künstlerischen Erfolg. 1976 noch einmal ein großer Auftritt beim Jazz-Festival Frankfurt, danach wird es immer stiller um sie. Inge Brandenburg ist alkoholkrank, zieht sich zurück, verarmt, verkommt. Zwei Jahre nach einem allerletzten Comeback für ein Konzert des Bayrischen Rundfunks stirbt sie am 23. Februar 1999 im Alter von 70 Jahren an den Folgen ihrer Alkoholsucht.
 
Das wenige, das blieb
 
Das wenige, das Inge Brandenburg hinterlassen hat, gehört zum Besten, was der europäische
Vokal-Jazz je zu bieten hatte. Marc Boettchers brillant recherchierter, faszinierender Film über diese unerhört interessante Frau und umwerfende Künstlerin setzt ihr ein Denkmal - gebrochen, gewiß, doch eines, das auch an die Fehler ihrer Umgebung erinnert, die es nicht zuließ, daß diese Künstlerin zeigen konnte, was in ihr steckte. Ein großer Verlust für die Jazz-Welt. Für Recherche, Redaktion, Dramaturgie, Schnitt, Ton- und Bildqualität und für seinen hinreißenden Vorspann verdient der jetzt auf DVD zu habende Film ebenso wie die parallel dazu produzierte CD (s.u.) unsere Auszeichnung: den Musenkuß.
 
„Sing! Inge, sing!“ – 2 DVD (Nr. 1 deutsche, Nr. 2 englische Fassung),
Eine Co-Produktion von arte/NDR/HR
Produktion, Buch und Regie: Marc Boettcher
2x je ca. 120 Minuten
© MB-Film 2011
 
Songtitel (Inge Brandenburg): All of me – Angel Eyes – Autumn in New York – Basin Street Blues – Bei dir war es immer so schön – Body and soul – Cheek to cheek – Es ist doch immer wieder schön – Everything´s coming up roses -  Goody goody – Harry´s kleiner Ballsalon – Hey, Baby – How high the moon – I got it bad that ain´good – It´s a good day – It´s allright with me – I´ve got you under my skin – Lonesome road – Love for sale – Love me or leave me – Lover man – Mit lauter Stimme rufe ich zum Herrn – Morgen ist es vielleicht schon zu spät – Moritat von Mäckie Messer – Non, je ne regrette rien – On the sunny side of the street – Out of nowhere – Rhapsody in Blue – Round midnight – Secret Love – Skylark – Südlich von Hawaii – Summertime – S´wonderful – Teptation – That old black magic – The Man I love – There will never be another you – What a difference a day made – Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr – Zeig mir was Liebe ist 
 
Die CD zum Film
 
Marc Boettcher hat für das Begleitalbum zu seinem Film (in dem etliche Titel mehr in stimmungsvollen Live-Mitschnitten und Studio-Produktionen zu hören sind) 22 rare Jazz-Aufnahmen von Inge Brandenburg aus Rundfunk- und Fernsehsendungen aufgetrieben. Erst durch Boettchers Film angeregt wurde in Archiven nachgeschaut und dieser Schatz mit überwiegend bisher unveröffentlicht gebliebenen Mitschnitten gehoben. Ein echtes Jazz-Album (Titelauflistung unten), welches in jede Plattensammlung gehört, die auf sich hält. Der Preis der Deutschen Schallplattenkritik ist angemessen.
Bereits 11 Jahre zuvor hatte das Label Bear Family Records, das sich auf die Bewahrung und Wiederveröffentlichung internationaler (überwiegend US) und deutscher Country-, Pop- und Rock-Musik der 50er bis 70er Jahre spezialisiert hat, ein Album mit 24 Titeln - überwiegend Schlagern - von Inge Brandenburg aus den Jahren 1960-67 auf den Markt gebracht. Nur zwei Titel finden sich auf beiden Alben: „All of me“ und „Lover man (where can you be)“, beide aufgenommen am 10.11.1960 in Berlin.
 
CD (© 2011 Silver Spot Records):
1. The man I love – 2. Secret love – 3. Easy living – 4. What a difference a day made – 5. Love for sale – 6. Love me or leave me – 7. Temptation – 8. I've got you under my skin – 9. Lover man – 10. The lonesome road – 11. Moonglow – 12. Cheek to cheek – 13. All of me – 14. It's all right with me – 15. Wenn Du in meinen Träumen (Over the rainbow) – 16. Body and soul – 17. I can't give you anything but love – 18. Skylark – 19. The face of love – 20. Basin street blues – 21. Morgen ist es vielleicht schon zu spät - 22. Non, je ne regrette rien
 
Gesamtzeit: 1:13:12