"Ich las die Bibel nicht, ich träumte sie"

Zum 125. Geburtstag des Malers Marc Chagall

von Andreas Rehnolt
"Ich las die Bibel nicht,
ich träumte sie"
 
Der Maler Marc Chagall wurde am 7. Juli
vor 125 Jahren im russischen Witebsk geboren.
Vor allem seine Illustrationen zur Bibel
sind weltweit bekannt
 
 
Der Maler Marc Chagall gilt als einer der faszinierendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Weltweiten Ruhm und Bewunderung erwarb er sich vor allem mit seinen zahllosen Illustrationen zur Bibel, die der am 7. Juli 1887 im russischen Witebsk geborene Chagall als "reichste poetische Quelle aller Zeiten" bezeichnet hat. Ihre Gestaltung fesselte ihn vor allem seit den 1950er Jahren. In seinen Zeichnungen, wenigen Gemälden, Litographien, Gouachen, Glasfenstern, Mosaiken und Wandmalereien begegnet der Betrachter vor allem Figuren aus dem Alten Testament wie Erzvätern, Königen, Propheten und Engeln.
 
Vor 125 Jahren wurde Chagall als ältestes von neun Kindern in eine orthodox-jüdische Familie hineingeboren. Als kleiner Junge schon besuchte er in seiner Heimatstadt die Malschule, seit 1906 lebte er im kulturellen Zentrum Russlands, in St. Petersburg, wo er auf die berühmte Swansewa-Schule ging. Schon damals war er tief religiös und heimatverbunden. Als Motive wählte Chagall in dieser Zeit die einfachen Menschen seiner Heimat. Titel seiner frühen Bilder lauten etwa "Russische Hochzeit, "Die Dorfstraße" oder "Frau mit Blumenstrauß".
1910 reiste der junge Maler erstmals nach Paris, das für ihn zur zweiten Heimat werden sollte. Kontakte mit den Impressionisten, später den Kubisten veränderten sein Verständnis von Malerei, Farbe und auch seine Malweise. Sein Ölbild "Das Modell" etwa zeigt eine junge Frau, die selbst zum Pinsel greift. Das Gemälde "Ich und das Dorf" steht quasi als Beginn seiner poetischen Malerei, die sein Dichterfreunde Guillaume Apollinaires als "sumaturel" (übernatürlich) bezeichnete. Chagall selbst betonte in dieser Zeit: "Kunst scheint mir vor allem ein Seelenzustand zu sein."
 
Chagall galt schon damals als Poet, Träumer, Exot und künstlerischer Eigenbrötler. 1914, als er in Berlin seine erste große Einzelausstellung hatte, verhinderte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges seine Karriere als Maler. Zurück in Russland heiratete er. Aus einem geplanten Kurzaufenthalt wurden kriegsbedingt acht Jahre, in denen Chagall seine Kunst für die Revolution einsetzte. Dann trieb ihn die politische Gleichschaltung in seinem Heimatland zurück nach Paris. Notre Dame, der Eiffelturm und die Seinebrücken finden sich in seinen Werken immer wieder.
1931 reiste er wegen des Auftrags, Illustrationen zur Bibel anzufertigen, nach Palästina, 1935 nach Polen. Im Warschauer Ghetto erlebte er erstmals Judenfeindlichkeit mit. Der Zweite Weltkrieg und die Pogrome gegenüber den Juden verändern seine Bilder erneut. Chagalls Antwort auf Picassos Historienbild "Guernica" von 1937 ist sein Andachtsbild "Weiße Kreuzigung" von 1938, das sich in das Leiden einfühlt. Inmitten aller Gewalt, aller Brutalität und Leids hängt Christus am Kreuz, unversehrt. Die Spuren seines Leidens sind getilgt, ein heller Strahl beleuchtet ihn. 1941 emigriert der Jude Chagall vor den Nazis nach New York, nach Berlin und Paris die dritte Weltmetropole. Sieben Jahre später zog er schließlich zurück nach Frankreich, wo er sein Gemälde "Der Engelsturz" beendete, in dem jüdische Vision, individuelle Geschichte und christliche Erlösungsmotivik sich vereinen.
 
In den Jahren, die dann folgten, schuf Chagall sein bildnerisches wie auch geistiges Vermächtnis. 100 Pastelle entstanden zwischen 1954 und 1967: Die biblische Botschaft. Zeitgleich zur biblischen Botschaft schuf er Glasmalereien etwa in den Kathedralen von Metz, Reims und Chichester, den Kirchen in Mainz und Le Saillant, der Synagoge der Jerusalemer Hadaßah-Klinik und des Fraumünsters in Zürich. Es schien, als ob die Welt, als ob die unterschiedlichen Religionen auf Chagall gewartet hätten. Wunderbar seine Bilder zur Erschaffung des Menschen, zu Noah, dem Paradies, dem Hohelied, Abraham, Jakobs Traum, Moses vor dem brennenden Dornbusch oder zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies.
Bis kurz vor seinem Tod im Alter von 97 Jahren am 28. März 1985 im südfranzösischen Saint-Paul-de-Vence schuf Chagall weiter und weiter. In seinen Werken wird ein Übermaß an Empfindung deutlich und ein lyrischer Zauber, dem sich der Betrachter nur schwer entziehen kann. Ingo F. Walther und Rainer Metzger schrieben 1993 in ihrem Buch "Malerei als Poesie" über Chagall, er habe "das alltägliche wunderbar" gemacht, das sei der Sinn seiner Verfremdungen gewesen. Beide Autoren betonten zudem, daß Chagall mit seiner Malerei in Jahrhunderten gewachsene Differenzen zwischen Religionsgemeinschaften, Weltanschauungen und künstlerischen Ideologien überbrückt hätte. "Nichts weniger als Arkadien, Paradies und Elysium in einem sollte die labende Botschaft sein und der Wanderer zwischen den Welten, Marc Chagall, ihr Verkünder".
 
Im Kölner Wienand Verlag ist zum 125. Geburtstag Chagalls ein Bildband von Pierre Provoyeur mit dem Titel "Chagall - Wort und Tat - Die Pastelle der biblischen Botschaft" mit 229 farbigen Abbildungen erschienen. 240 Seiten, 24 x 32,5 cm, geb. m. Schutzumschlag, ISBN 978-3-86832-063-3 – 68,- (91,- sFr)