Mehl rutscht nicht nach

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Mehl rutscht nicht nach
und andere Erkenntnisse aus dem
Bäckerleben

1. Juli: „Mehl rutscht nicht nach“, sagte die Bäckereiverkäuferin. Ich hatte gerade einen LKW gesehen, der sein Weizenmehl mit riesigen Schläuchen in den Hinterhof der Bäckerei pumpte. Der Fahrer des LKWs schlug dabei mit einem Gummihammer gegen die große Mehltrommel, die wie ein Schneckenhaus auf dem Hinterteil des LKWs thronte. Er tat dies nicht energisch, sondern eher matt und mutlos, als sollte ein Gong zu Essen rufen und keiner kommt. Ich ging an ihm vorbei in den Verkaufsraum und  fragte die Bäckereiverkäuferin, warum der Mehlmann solch ein Verhalten an den Tag legen würde, und sie nicht eine Minute zögerte um mich vollauf mit der Erklärung zufrieden zu stellen: „Mehl rutscht nicht nach.“ Glücklich schaute ich durch die Schaufensterscheibe. Man hört so wenig über das Rutschverhalten von Mehl. Ich war froh dieses Thema angesprochen zu haben.
 
3. Juli: In dem Schaukasten, welcher unter einer Linde vor der türkischen Dönerbude aufgestellt worden war, hing ein Plakat. „Filme für Senioren“. Das lockte mein Interesse. Jede Woche konnten ältere Mitbürger einen Film im Naturkundemuseum sehen, dessen Thema auf dem Plakat angekündigt worden war. Die Filme handelten von Feldhasen und von Wildschweinen, von Schmetterlingen und von Rotkehlchen. Naturbetrachtungen und Landschaftsfilme. Ein bißchen aufregender konnte es schon sein. Sicher, ältere Menschen dürfen sich nicht mehr so aufregen, aber man sollte sie auch nicht zu sehr in Watte packen. Der Film über den Feldhasen dauerte ca. 15 Minuten, während der Film über das Wildschwein nur 7 Minuten dauerte. Ich wunderte mich über Filme, die das Leben der Feldhasen so ausführlich darstellten, aber das Leben des Wildschweins mit 7 Minuten abtaten. Wollte man im Wildschweinfilm den Senioren nicht die ganze Wahrheit zumuten? War das Leben der Feldhasen ausgefüllter, als das Leben der Wildschweine? Hatte da jemand ein Herz für Fluchttiere? Ich suchte das Plakat nach interessanten Filmen ab. Wo waren die Filme über die „Frauen“, die mit einer Überlänge von 60 Minuten über dieses Mysterium aufklärten? Wo war der Kurzfilm „Der Mann“, der in einer Dauer von zwei Minuten alle Geheimnisse und Ziele des Mannes offenbarte?
 
5. Juli: Die dicke Bäckereiverkäuferin kam hinter der Kaffeemaschine hervor. Sie hatte gerade etwas gegessen und kaute noch. Sie drückte sich eine Hand gegen den Mund, als wollte sie den Schluckvorgang vorantreiben. Ich wollte Streuselkuchen kaufen. Ich hatte den Streuselkuchen dieses Bäckers besonders zu schätzen gelernt, weil dort so große Streuselstückchen auf dem Kuchen ruhten. Ich schaute in die Auslage. Viele der Bleche waren leer. Manche Kuchenarten waren gar nicht mehr vertreten. „Haben sie noch Streuselkuchen?“, fragte ich ohne große Hoffnungen. „Nein“, sagte die dicke Verkäuferin und stieß noch einmal auf. „Der Streuselkuchen ist ausgegangen.“ Ich sagte nichts. Es war aber klar, daß man mir ansah, was ich dachte. Ich schloß die Augen. Der Streuselkuchen war nicht einfach verschwunden. Da gab es eine dicke Verkäuferin, die sich nicht zurück halten konnte. Ich kannte doch meine Pappenheimer. Da war Gier im Spiel. Da konnte sich jemand nicht zurück halten. Da hatte man das Schaf zum Gärtner gemacht. Enttäuscht nahm ich ein Stückchen Mohnkuchen, bereute dies natürlich beim Kaffeetrinken. Wenn man sich auf einen Streuselkuchen gefreut hatte, ist ein Mohnkuchen kein guter Ersatz. Mohnkuchen will, daß man ihn bewundert. Streuselkuchen kommt, um zu dienen.
 
7. Juli: Padermann hatte wieder einer dieser Tage, wo er mißmutig und unangenehm war. „Ich hoffe, das bleibt jetzt unter uns“, sagte er.  „Kinder brauchen noch nicht zu wissen, was sie mal erwarten wird.“ Wir nickten alle, um Padermann nicht noch mehr Grund für seinen Weltekel zu geben.  „Ich finde, daß dieses Leben ohne Kuchen unerträglich ist“, flüsterte er. „Dieses Leben ist ohne Kuchen nicht zu ertragen, und ohne Blumen“, sagte er. „Es kann mir gestohlen bleiben ohne Kuchen, Blumen und Kinder.“ Er machte eine kurze Pause, damit wir das Gesagte begreifen konnten. „Was würden wir machen, wenn es nicht die Vögel, die Frauen und den Humor geben würde?“ Er trank einen Schluck Wasser, als müsste er sich stärken. „Ich bleibe dabei, dieses Leben ist nicht zu ertragen ohne Kuchen, Torten und Teilchen.“ Wir schauten uns alle an und klatschten schließlich. So bekamen viele nicht mehr mit, dass Padermann noch gar nicht fertig war mit seiner Rede. „Schade ist nur, daß dicke Menschen nicht mehr als reich und schön angesehen werden“, sagte er noch, bevor er in Tränen ausbrach.



© 2012 Erwin Grosche - Erstveröffentlichung in den Musenblättern