Kinder sind verdammt höflich!

Bemerkungen zum deutschen Kinderbuchmarkt

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker

Kinder sind verdammt höflich!
 
Wie Kinder wirklich über die Bücher denken, die ich Ihnen in dreißig Jahren als Verleger, und später als Autor, vorgesetzt habe, blieb mir meist verborgen. Schulklassen zu befragen, hat selten Sinn. Sie sind zu höflich, um dem Autor ihre Meinung ins Gesicht zu sagen. Außerdem sind sie keine geübten Kritiker, und über ihre Gefühle und Gedanken nach einer Lesung oder Lektüre zu sprechen, fällt ihnen nicht leicht. Sie wollen sich auch nicht blamieren, und schon gar nicht die Lehrperson (überwiegend Frauen) verärgern.
Dabei boomt der Markt für Kinder- und Jugendbücher; immer mehr Verlage legen sich ihre KiBu-Sparte zu. Offenbar mit Erfolg. Rezensenten in den Rundfunkanstalten (meist Frauen) oder in anderen Medien müssen aus der Überproduktion auswählen, müssen außerdem entscheiden, wen sie ansprechen: Die Kinder selbst? Die Eltern und Erzieher? Die Buchhändler?
Die Presseverantwortlichen in den Verlagen (meist Frauen) müssen die richtige Person (auch meist Frauen!) im richtigen Sender überzeugend informieren, um mit ihren vielen Titeln ein Bein auf die Erde zu bekommen. Ihnen wird „Feinarbeit“ abverlangt! Ohne Kenntnisse, ohne persönliche Kontakte läuft nichts!

Die Sendezeiten sind begrenzt. Man kann verstehen, daß die Redaktionen auf Verrisse verzichten, und nur Titel vorstellen, die sie loben können. Das ist bedauerlich, weil es für Kinder ja spannend wäre zu hören, warum da jemand ihr Lieblingsbuch nicht gut findet.
Daß unsere Rundfunkanstalten es fertig bringen, mit Hilfe verschiedener Formate der Buchvorstellungen Schneisen durch unwegsames Gelände zu schlagen, ist für den Außenstehenden, der darüber schreiben soll, zuerst einmal bewundernswert. WDR-Lilipuz hat das Klingende Bilderbuch erfunden; Deutschlandradio kreierte vor über zwanzig Jahren Die besten Sieben; eine kompetente monatliche Orientierung für Buchhändler, Bibliotheken, Schulen und Eltern. Daneben gibt es den täglichen Büchermarkt, der regelmäßig auch Kinderbücher vorstellt. DLR spricht auch mit Kakadu die Kinder selbst an, zu einer geschickt gewählten festen Stunde, wenn die Eltern ihre Ruhe haben wollen. Da gibt es sorgfältig gemachte Informations-, Erzähl- oder Hörspieltage, die oft auf Grund von Büchern entstanden sind.
Es ist wegen der Entwicklung des Buchmarktes immer schwieriger geworden, über die Verkaufsauswirkungen von Rezensionen oder Preisen Zahlen zu nennen. Der Deutsche Jugendliteratur-Preis brachte vor vierzig Jahren einen Absatz von ca. 30.000 Exemplaren; die Zahl ist auf ca. 2.000 bis 3.000 Exemplaren geschrumpft. In der immer noch begehrten Auswahl der Besten Sieben zu sein, und damit auch im DLR vorgestellt zu werden, bedeutet nicht mehr wie früher den Verkauf einer ganzen Auflage. Das mag für die Verlage verdrießlich sein und einige Kinderbuch-Rezensenten entmutigen, da es keine sichere Bank für den Erfolg mehr gibt. Kein Grund, darauf zu verzichten; es ist erstaunlich, wieviel gute Titel sich trotzdem durchsetzen.

Mit einem Blick auf die bestverkauften Kinder- und Jugendbücher der letzten zehn Jahre und meinen Erfahrungen nach mehr als tausend Lesungen in Schulen lassen sich aber doch einige Hinweise darauf nennen, was Kinder an Büchern lieben:
Sie haben Freude daran, wenn in Geschichten der Schwächere der Held wird und schließlich siegt. - Kinder lieben Humor und eine kräftige klare Sprache. Sie lachen allerdings an anderen Stellen als die Erwachsenen. - Sie können mit Ironie und Zynismus wenig anfangen. - Sie wollen nicht in Büchern nachlesen (müssen), welche Probleme in den Schulklassen immer wieder auftauchen. Das erleben sie selbst und wollen sich damit nicht auch noch in ihrer Freizeit beschäftigen. - Ob phantastische Geschichten in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft spielen, ist Kindern ziemlich egal. Sie lieben Phantasie, wenn sie nur unterhaltsam ist. - Kinder haben gar nichts gegen Moral! Nur dann, wenn sie verlogen daher kommt. - Kinder möchten wissen, ob der Autor seine Geschichte erlebt hat, oder wie seine Geschichte entsteht!
Meine vorsichtigen Ratschläge an die Redaktionen: Laßt mehr Autorinnen und Autoren selbst zu Wort kommen! Vor allem: widmen Sie den Büchern für Jungs mehr Raum! Sie sind ohnehin als Leser (und in Büchern) ins Hintertreffen geraten.
Im Scherz habe ich einer Schulklasse, die ein Buch grottenschlecht fand, geraten, dem Autor die Scheiben einzuschmeißen. Den gleichen Rat kann ich, bei aller Bereitschaft zur Kritik, den Kindern bei Rundfunkanstalten nicht geben. Nicht nur, weil da allzu viele Scheiben zu zerdeppern wären. Sondern weil sie durchweg gute Sendungen machen.
 
 
Biographische Notiz:
Hermann Schulz wurde 1938 in Nkalinzi, Ostafrika, geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend im Wendland und in Moers. Nach einer Buchhändlerlehre arbeitete er im Bergbau als Gedingeschlepper. Er bereiste u.a. Südamerika, Afrika und den Vorderen Orient. Von 1967 bis 2001 leitete Hermann Schulz den Peter Hammer Verlag in Wuppertal. Er schrieb zahlreiche Kinderbücher wie ›Iskender‹ (1999), ›Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt‹ (2003) und ›Mandela & Nelson, Das Länderspiel‹ (2010), für das er jüngst in Frankreich mit dem Prix Sorcières geehrt wurde, der seit 1986 von Buchhandlungen und Bibliotheken vergeben wird. 1998 erhielt Hermann Schulz die Hermann-Kesten-Medaille, die heute als Hermann-Kesten-Preis vom P.E.N.-Zentrum Deutschland gestiftet wird.
Er engagiert sich seit Jahren für Projekte in Nicaragua und Ostafrika

Der Beitrag wurde erstmals im Mai 2012 im Programm-Magazin von Deutschlandfunk/Deutschlandradio
veröffentlicht. In den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers.