Wiese

Ein Essay

von Rudolf Engel

Rudolf Engel - Foto © Frank Becker
Ein Stabreim und ein Text zum Thema:
 
Wiese
 
Von Rudolf Engel
 
 
Wenn ich ein Poet geworden wäre, hätte ich wahrscheinlich nur im germanischen Stabreim gedichtet.
- W wie Wupper, W wie Wiese, W wie Wupperwiese,
weiter, wahrscheinlich Wiederholungen wie:
- Wir Wuppertaler Waschweiber würden wahrhaft weiße Wäsche waschen, wenn wir wüßten,
wo warmes Wasser wär.
- Wir Wuppertals weise Wiesenwirte
würden wohl weiße Würzwürste wursteln,
wenn wir wüßten, wo wirksame Wurstwürze wär.
- Wobei Wuppertals Wirtshausweiber
weniger würzigen Weißwein wünschen,
weil Wickülers Weizenbier wesentlich wohlbekömmlicher wär.
 
Und noch eins
 
Wie Wilma weiland mit Waldemar Werner
wegen Wilhelm Weisgerber
an Wuppers Wiesen
wie aus Wasserhähnen wahnsinnig wässerte,
war Werner wahrhaft verwundert,
wie, wenige Wochen wartend,
weitverbreitet weißviolettes Wiesenschaumkraut, weiche Wicke, Weißdorn und o wie Wunder wankendes Windröschen wuchsen.
 
Ja, so etwa, hätte ich gedichtet.
Da ich aber, weder Poet noch Literat geworden bin, fällt mir Weiteres zum Thema Wiese nur noch über meine eigene Erinnerung ein.
 
 
Meine Sumpfdotterblumenwiese als Weg zur Welt
 
Als im Frühjahr 1935 die Saarländer wieder für Heim ins Reich votierten, erwarb meine Mutter von den abziehenden Franzosen das Zollhaus und machte es zu meinem zunächst sehr einsamen Elternhaus. Denn das Zollhaus lag weit ab, drüben auf der Provinzialstraße. Vor uns das riesige und sumpfige Wiesengelände des Seffersbaches und hinter uns die wild bewaldeten Hänge von „Hoarscht“.
Mit diesem Wald war dem vierjährigen Knaben eine faszinierende Naturwelt eröffnet; durch diese Wiese aber der Zugang zu den Spielorten der Gleichaltrigen drüben im Dorf verwehrt.
Heute wundert es mich, wie leicht es mir als kleiner Junge fiel, mit den Bäumen und Büschen, mit den Blumen und Pflanzen, mit den Vögeln und Wildtieren am nahen Wald vertraut zu werden.
Aber auf die große Wiese vor unserm Haus bin ich in dieser Zeit nie gekommen. Es handelt sich um ein circa 800 m breites, langgezogenes, leicht sumpfiges Gelände von mehr brauner als grüner Farbe, durch das sich vom Hochwald kommend, der Seffersbach hinunter zur Saar träge hinschlängelt.
Diese riesige Sefferswiese war der Lebensraum für Myriaden von Mücken und Schnaken, von Fröschen und Kröten, von Schnepfen und Reihern, nicht aber der der Menschen. Hierhin, wo weder Baum noch Strauch, weder Busch noch Hecke wuchsen, hierher verirrten sie keine Kinder zum Spielen, und keine Pärchen zu Lieben, wie´s etwa der Fall ist, wenn seit Jahrhunderten im Wiener Prater die Bäume wieder blühen.
Hier, auf unserer Sefferswiese wurden auch keine Hochzeiten gefeiert, wie am 12. Oktober 1810 auf der berühmten „Wiesn“ von München, seither auch Theresienwiese genannt, als sich der bayerische Kronprinz Ludwig mit Prinzessin Therese vermählte. Seitdem ist die „Wiesn“ der Prototyp aller Belustigungs- und Vergnügungswiesen, als Oktoberfest, der Welt größtes und weltweit besuchtes Freß- und Saufgelände.
 
Hier aber auf dieser Sumpfwiese, die mein Elternhaus vom Heimatort trennte, hier wurden weder Hochzeiten noch Saufgelage gefeiert, hier wurde nicht geliebt, gezeugt geboren und gesäugt, wie etwa auf den unendlich weiten Wiesen, den Prairien der Great Plains des amerikanischen Mittelwestens, über die hinweg der weiße Mann zog, die friedlich weidenden Büffel ausrottete, die dort jagenden Indianer dezimierte und auf seinem großen Treck von Ost nach West einen ganzen Kontinent eroberte.
Mir erscheint es fast wie eine versteckte Symbolik und doch so auffällig unübersehbar, daß auf einer dieser vom weißen Mann eroberten Wiesen das bisher größte Friedensfest der Geschichte, das Music and Art Festival von Woodstock vom 15. bis 17. August 1969 stattfand, auf dem Hunderttausende von Hippies der Welt entgegensangen:
„Make love, no war!“
Die sumpfige Wiese zwischen dem Zollhaus und meinem Dorf war nie ein solches Fest- und Siedlungsgebiet. Auch heute noch wird da nicht gebaut; von dem Versuch Adolf Hitlers einmal abgesehen, am Rande der Wiese, die „Straße des 13. Januar“ zu errichten. Heute heißt die Straße: „In der Pützwiese“, weil niemand im Dorf sich mehr an das `Geschenk des Führers´ dafür erinnern möchte, daß die Saarländer am 13. Januar 1935 mit über 90 % für den Anschluß an Hitler-Deutschland gestimmt hatten.
 
"iwer de Wiss", der direkte Weg
 
Als ich Ostern 1937 zur Schule kam, führte mein täglicher Schulweg weit um diese große Wiese herum und betrug etwa 2 Kilometer. Quer über die Wiese wäre es nur ein Viertel der Wegstrecke gewesen. Mit der Aufnahme in die Grundschule und den damit sich ergebenden ersten freundschaftlichen Beziehungen, wurde mir der lange Weg um die Wiese herum immer lästiger, sodaß ich eines Tages entschied, die Abkürzung "iwer de Wiss" zu nehmen, die das Jahr über naß und brüchig war. Am häufigsten nahm ich die Abkürzung im Sommer, denn es war ja dabei noch der Seffersbach zu überspringen.
Auf dem Hinweg war dies ziemlich leicht, denn von dieser Seite konnte man einen langen Anlauf nehmen; zudem sprang man auf dieser Seite von einem höher gelegenen Steilufer des Prallhangs auf das tiefer gelegene Flachufer des Gleithangs. Aber mein erster Versuch in umgekehrter Richtung wurde im wahrsten Wortsinn zum Reinfall: Ich erreichte zwar mit beiden Füßen die Kante des andern Ufers, hatte aber den Schulranzen auf dem Rücken und so viel Rücklage, daß ich mit der ganzen Länge meines Körpers zurückfiel und mit all meinen Kleidern und Schulsachen im Wasser landete.
Als in den letzten Kriegsjahren auch auf dem Lande immer mehr der Hunger grassierte, legte ich mit Mutter zusammen am Rande der Sumpfwiese mit Hacke und Spaten einen schmalen Streifen trocken, um in dieser Zeit der größten Not ein wenig Selbstversorgung zu gewinnen. Im Frühjahr 44 säte ich sogar die Melonenkerne in die nasse Scholle, die Vater per Feldpost aus der Ukraine geschickt hatte.
 
 
Der Staden, die Saaslong und Saint Germain des Prés
 
Seit meiner Schulzeit bin ich nicht mehr über die Sefferswiese gegangen; kann aber behaupten, daß es wiederum Wiesen waren, die mir fortan den weiteren Weg zur Welt öffneten.
Zu meiner Studien- und Junglehrerzeit wohnte ich nahe an Saarbrückens bekanntester Wiese, dem Staden.
Hier begann meine Sportkarriere, als ich dort den Sankt Johanner Geländelauf gewann. Wir erinnern uns: Wiesen sind historisch betrachtet auch der soziokulturelle Urgrund aller neuzeitlichen Leibesübungen. Die meisten weltweit betrieben Sportarten sind auf der freien, offenen Wiese entstanden. Und heute noch vollziehen sich die exklusivsten unter ihnen weltweit auf dem weichen Geläuf der Rennbahn und auf den höchst gepflegten Greens des Golfsports.
Der Saarbrücker Staden war auch der Ort, wo ich Inge, meine Frau kennenlernte; es war die Zeit, in der der Schlager aufkam: „Die Wege der Liebe sind wunderbar!“
In meinem weiteren Leben bin ich über manch anderen bedeutenden Wiesenboden gegangen; in meinem französischen Studienjahr 1952/53 zum Beispiel auf Saint-Germain-des-Prés. Dieses berühmte Pariser Studentenviertel war zur Zeit des Sonnenkönigs der Gemüsegarten von Paris, zu meiner Zeit der intellektuelle Pulsschlag der Weltstadt, wo ich morgens Jean Paul Sartre gehört habe und abends in einem Jazzkeller der Existentialisten die dort debütierende Sängerin Juliette Greco.
Wer über die Reich- und Tragweite von Wiesen nachdenkt, darf die alpinen Almen nicht außer Acht lassen. Es waren eben diese Regionen zwischen Talgrund und Gipfelflur, die seit Jahrhunderten den Menschen des Hochgebirges von den französischen Meeralpen über Savoyen, Piemont, das Allgäu und Tirol bis zu den Karawanken als Siedlungsraum und Nährboden dienten.
Das Lexikon bezeichnet die Alm, (aus dem Keltischen kommend auch Alb oder Alpe), als die während der Sommermonate als Weide benutzte Bergwiese. In den letzten hundert Jahren werden diese Almen aber nicht nur im Sommer genutzt.
Seit genau 60 Jahren suche ich mit Inge drei der bekanntesten Almen, hauptsächlich im Winter auf: die Seiser Alm, die Sasslong und die Dantercepies, drei der schönsten Skiabfahrten des alpinen Raumes rund um den Langkofel in den Südtiroler Dolomiten...
Nunmehr schließt sich der Kreis um die Wiesengrunde: Wenn es bald mit dem Reisen zu den Weltwiesen nicht mehr klappt, dann bleiben uns dennoch zwei Wiesen als Lebensraum erhalten, die Wiese am Baggersee von Oberbruch und Baden-Badens berühmteste Wiese, die Lichtenthaler Allee.
 
 
© 2012 Rudolf Engel