Georgia O’Keeffe in München

Lichtgestalt der feministischen Kunstgeschichte?

von Rainer K. Wick

Alfred Stieglitz Georgia O'Keeffe 1935 -
Foto: Kunsthalle Hypo-Kulturstiftung
Georgia O’Keeffe
in München

Lichtgestalt der
feministischen Kunstgeschichte?
 
In München geht in diesen Tagen nach fast dreimonatiger Laufzeit eine überaus sehenswerte Ausstellung auf die Zielgerade, die man, auch wenn die Zeit knapp wird, möglichst nicht versäumen sollte. Gezeigt wird noch bis zum 13. Mai 2012 die erste große deutsche Retrospektive der bedeutendsten amerikanischen Künstlerin des 20. Jahrhunderts, nämlich von Georgia O’Keeffe. Bekannt wurde sie hierzulande vorwiegend durch Reproduktionen ihrer Blumengemälde – Poster, Kalenderblätter, Postkarten –, während Originale bislang nur selten zu sehen waren. Die große Retrospektive, die zuvor in der Fondazione Roma Museo in Rom gezeigt wurde, jetzt noch in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in der Münchner Theatinerstraße Station macht und danach im Helsinki City Art Museum in Finnland zu sehen sein wird, bietet die seltene Gelegenheit, sich einen umfassenden Überblick über alle Werkphasen dieser Ausnahmekünstlerin verschaffen zu können, ohne in die USA und vor allem in das große O’Keeffe-Museum in Santa Fe reisen zu müssen.
 
Stationen eines Künstlerlebens
 
Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber der sog. biographischen Methode als Instrument des Werkverstehens wird man mit Fug und Recht behaupten dürfen, daß im Fall von Georgia O’Keeffe vor allem die Entwicklung ihres Frühwerks und die Erfolgsgeschichte dieser Künstlerin ohne bestimmte Weichenstellungen in ihrem langen und erfüllten Leben kaum denkbar sind.
Georgia O’Keeffe wurde 1887 als Tochter von Farmern in Wisconsin geboren, mit 98 Jahren starb sie 1986 in New Mexico. Zwischen 1892 und 1900 erhielt sie häuslichen Zeichenunterricht und hatte schon früh den Wunsch, Malerin zu werden. In der Zeit von 1905 bis 1908 studierte sie Kunst an der School of the Art Institute in Chicago und an der Arts Student League in New York. Hier begegnete sie in der legendären, von dem Fotografen Alfred Stieglitz betriebenen „Galerie 291“ der französischen Avantgarde in Gestalt von Arbeiten von Auguste Rodin, möglicherweise auch von Henri Matisse. In den folgenden Jahren arbeitete die Künstlerin als Gebrauchsgrafikerin, gab Zeichnunterricht und setzte ihr Kunststudium fort. In Stieglitz’ „Galerie 291“ (übrigens die Hausnummer in der Fifth Avenue, wo sich die Galerie befand) lernte sie 1914/15 den Kubismus à la Picasso und Braque kennen. Wenig später begann sie mit gegenstandslosen Kohlezeichnungen und abstrakten Aquarellen, kehrte aber schon 1917 zu einer abstrahierenden Gegenständlichkeit zurück. Die Münchner Ausstellung dokumentiert diese wichtige Werkphase mit einer repräsentativen Auswahl nur wenig bekannter Papierarbeiten. 1917 war insofern ein entscheidendes Jahr, als Stieglitz, der O’Keeffes Talent früh erkannt hatte, der Dreißigjährigen eine erste Einzelausstellung widmete (und sie später regelmäßig ausstellte). Kurz darauf wurden O’Keeffe und der dreiundzwanzig Jahre ältere Stieglitz ein Paar, 1924 heirateten sie.


Alfred Stieglitz, Georgia O'Keeffe - Torso 1931 Foto: Katalog

Stieglitz, der als Fotograf von der malerischen Bildauffassung der Jahrhundertwende (Piktorialismus) herkam und gerade im Begriff war, sich der sachlichen „Straight Photography“ zuzuwenden – zwei Aufnahmen mit New Yorker Wolkenkratzern belegen in der Münchner Schau diese Entwicklung überaus prägnant –, begann seine Geliebte und spätere Frau regelmäßig zu fotografieren. Insbesondere Aktfotos, die Georgia zeigten, erregten im puritanischen Amerika Aufsehen. Sarah Greenough charakterisiert in ihrem Katalogbeitrag die komplexe Beziehung zwischen Stieglitz und O’Keeffe wie folgt: „Mentor und Muse, Mann und Frau, Kunsthändler und Protegé; vor allem aber Liebende und Streiter für eine gemeinsame Sache, einander Quellen überschwänglicher Freude und tiefer Inspiration“, unterschlägt aber auch nicht, daß es bis zum Tod von Stieglitz 1946 nicht selten „Frustration, Kummer und sogar Demütigung“ gab.
 
Erotisch codierte Malerei?
 
In den späten 1910er und in den 20er Jahren entwickelte die Künstlerin ihren genuinen Stil, fand sie zu ihrer künstlerischen Identität. Während sich vor ihr zahlreiche amerikanische Künstler an europäischen Leitbildern orientiert, Bildungsreisen nach Europa gemacht oder sogar dort studiert hatten, entfaltete O’Keeffe eine ganz eigenständige, von europäischen Einflüssen weitgehend unberührte Bildsprache, die als singulär zu bezeichnen ist. Berühmt wurden ihre Blumen-, Blüten- und Muschelbilder, die zwischen sachlicher Naturwiedergabe und malerischer Umdeutung der Dingwelt oszillieren. Dazu trägt u.a. die Nahsicht auf die Gegenstände, das sog. Close up, bei, was dazu geführt hat, Detailformen wie z.B. den Blütenstand einer Calla oder Darstellungen einer offenen Muschelschale als Sexualorgane zu „lesen“. O’Keeffe selbst hat sich gegen derartige Interpretationen ihrer Kunst als einer „erotisch codierten Malerei“ (Walter Grasskamp im Katalog) immer verwahrt, und sicherlich ist es auch ein Mißverständnis, ihre Bilder als feministisch zu qualifizieren und sie in das Korsett eines Gender-Diskurses zu zwängen. Natürlich ist nicht zu verkennen, daß sie eine ausgesprochen starke Künstlerpersönlichkeit gewesen ist, die der sog. Frauenkunst (eigentlich ist

Georgia O'Keeffe, 1926 Offene
Muschelschale - Foto: Katalog
schon in dieser Begriff diskriminierend) einen enormen Schub verliehen hat. Sie als „Lichtgestalt der feministischen Kunstgeschichte“ zu feiern, wie es zuweilen geschieht, erscheint gleichwohl überaus fragwürdig.
 
New Mexico als Inspirationsquelle
 
Daß sich Georgia O’Keeffes Œuvre keineswegs auf den gerade angesprochenen Aspekt verkürzen läßt, zeigen eigenwillige Ansichten New Yorker Hochhausbauten ebenso wie die großartigen Landschaftsbilder aus New Mexico, jener Region der USA, die sie erstmals 1917 besucht und deren herbe landschaftliche Schönheit sie zeitlebens fasziniert und künstlerisch inspiriert hat. Seit 1929 hielt sie sich in unregelmäßigen Abständen immer wieder in New Mecixo auf, um nach dem Tod von Stieglitz 1946 in den späten 1940er Jahren endgültig im Südwesten der USA ansässig zu werden. In der Abgeschiedenheit ihres Hauses in Abiquiú (etwa 85 km von Santa Fe) und auf langen Wanderungen erschloß sie sich die bizarren Bergformationen und die menschenfeindliche Wüstenlandschaft ihrer Wahlheimat und transformierte diese Eindrücke in unverwechselbare Gemälde von großer Eindringlichkeit. Dabei begegnete sie auf Schritt und Tritt auch der Vergänglichkeit und schuf ihre ureigenen Versionen eines kunstgeschichtlich traditionsreichen Motivs, nämlich des „memento mori“, indem sie Bilder malte, die in streng symmetrischer Anordnung schlanke Pferdeschädel  – Fundstücke auf ihren Streifzügen durch die Umgebung – zeigen. Mit zunehmendem Alter wurden O’Keeffes Gemälde immer reduzierter. So wurde für sie eine schlichte, schwarze Tür im Patio ihres Adobe-Hauses zu einem Motiv, das sie merfach abwandelte und bis zur fast vollständigen Abstraktion durchvariierte – etwa in dem Bild „Meine letzte Tür“ von 1952/54, in dem Räumlichkeit und Perspektive zugunsten einer reinen Flächigkeit verschwunden sind. Ganz offensichtlich kehrte die Künstlerin hier zu ihren abstrakten Anfängen zurück, freilich bereichert und geläutert durch die schöpferischen Erfahrungen eines langen und produktiven Künstlerlebens.
Tragisch mutet es an, daß ab 1971 O’Keeffes Sehkraft stark nachließ und die Künstlerin beim Arbeiten zunehmend auf fremde Hilfe angewiesen war. 1972 schuf sie ihr letztes eigenhändiges Ölbild, doch konnte sie noch bis 1978 Aquarelle und Kohlezeichnungen und bis 1984, also zwei Jahre vor ihrem Tod, Graphitarbeiten ausführen.


Georgia O'Keeffe, Landschaft bei Black Mesa New Mexico 1930 - Foto: Kunsthalle Hypo-Kulturstiftung
„Meine Welt ist sehr anders … Sie ist sehr kahl, sehr leer. Sie erstreckt sich über die ganze Welt“, hatte Georgia O’Keeffe 1960 festgestellt. Ein authentischeres und treffenderes Motto für die großartige Münchner Retrospektive wird sich kaum finden lassen. Begleitet wird die Ausstellung von einem hervorragenden Katalogbuch mit Texten ausgewiesener Autoren und zahlreichen ganzseitigen Abbildungen in Farbe.
 
Georgia O’Keeffe. Leben und Werk
Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung
Theatinerstraße 8
80333 München
Informationen auch: www.hypo-kunsthalle.de
 
Katalogbuch hrsg. v. Barbara Buhler Lynes und Christiane Lange,
© 2012 Hirmer Verlag, München, 224 Seiten, gebunden, 84 Farbtafeln, 45 Abbildungen in Farbe und 44 in Schwarz-Weiß, 27,5 × 28 cm, 
ISBN 978-3-7774-5061-2, 39,90 €, in der Ausstellung 25,00 €
 
Redaktion: Frank Becker