Die Brache (3)

Tagebuchaufzeichnungen

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Die Brache (3)

So etwas gibt es, Menschen, die sich in der Berufswelt schwer tun oder auf Vorurteile stoßen. Ich denke an Yvonnes Mutter, die vor Jahrzehnten Mitarbeiterin in meiner kleinen Abteilung war. Sie hatte sich vorher in keiner Abteilung halten können. Manchmal war sie unsicher, ob man bei einer Rechnung eine Zahl hinzuzählen oder abziehen sollte, aber, wenn man es ihr erklärte, schaffte sie vieles; und sie konnte dafür anderes besonders gut. Sie erkannte sofort, ob ich meine Fingernägel gefeilt hatte, oder ob meine Pullover aus Kaschmir oder aus Synthetikwolle (war er meistens) war, und sie verkündete es laut im Raum. Sie besuchte alle kranken Kollegen. Wenn sie etwas nicht konnte, fand sie immer jemand, der es für sie erledigte. Nur ihren Mann hatte sie nicht halten können; oder, anders herum, sie hatte das auch durch eine Andere erledigen lassen.
Dann wurde sie krank und lag während ihrer letzten Wochen im Hospiz. Ihre Tochter Yvonne sagte mir damals: „Sie ist ganz zufrieden. Sie hat auch ihren Lieblingspfleger.“
 
Die übriggelassenen Kartoffeln hat man uns eingepackt, damit wir zu Hause Bratkartoffeln machen können. Vorsichtig tapse ich von der Metallkanzel meines Wundercafés hinunter und meine dabei, die ganze Welt im Griff zu haben. Wann wird es wieder so schön sein? Mein Blick schweift über die Brache da draußen. Wieder wittere ich in der rauhen, sonnendurchfluteten Herbstluft Freiheit, kann mir vorstellen, wie ich über die Grasnarben und sandigen Stellen tänzele, vielleicht mit einer bunten Narrenkappe mit Schellen auf dem Kopf.
Das Gefühl von Freiheit weitet sich aus zu einem Gefühl von Allmacht: Ich bin reich. Ich beschließe rasch, während meines ganzen Lebens wohlhabend zu sein. Schaffen werde ich das mit Hilfe von Reichtum, sonst aber durch Sparsamkeit oder Verzicht.
Hier, in der Brache, kann ich allen begegnen und ihnen in die Augen schauen, allen, die ich kannte. Zuerst denen, die schon gestorben sind. Schweigend und eindringlich stehen sie aufgereiht vor mir, kurze Blicke nach rechts und links werfend, ob sie auch vollzählig sind. Sie stehen nicht alle da, manche sitzen noch im Rollstuhl, den sie bald verlassen werden. Roland sitzt in so einem, er kräht fröhlich zu mir herüber: „Hast dich aber lange nicht blicken lassen.“
 
Recht hat er. Wir müssen uns von den Völkern im Osten und in Afrika zeigen lassen, wie man mit seinen Ahnen umgeht. Wir sollten ihnen gestatten, bei uns zu sein. Abends, wenn das Kaminfeuer flackert, sitzen sie in der Ecke und lächeln uns zu. Jeder sollte ein paar von ihnen zur Hand haben und sie zu Rate ziehen, es sei denn, er steht mit einem Heiligen auf gutem Fuß und konzentriert sich auf den. Oder auf den Schutzengel. Im Zeitalter der Vereinzelung wird dieser Wunsch immer stärker werden.
 



Weitere Notizen am kommenden Sonntag
© Karl Otto Mühl 2011 - Redaktion: Frank Becker