Die Brache (2)

Tagebuchaufzeichnungen

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Die Brache (2)

Das Schwimmen absolviere ich heute rasch, sogar müheloser als sonst, und, viel wichtiger, keine Spur von Ungeduld oder Eile wird fühlbar. Danach, beim Hinausgehen, sehe ich im Bistro Yvonne bedienen. Ich begrüße sie immer, wenn ich sie sehe, denn vor Jahrzehnten arbeitete ihre Mutter in meiner Abteilung. Yvonne überredet mich zu einer Tasse Kaffee, setzt sich zu mir, antwortet mir auf die Frage nach ihren Partnern sehr allgemein, daß man auch ohne Männer zufrieden sein könne. Ich bezweifele das nicht, aber ich erinnere mich, daß ihre Mutter genau so resigniert hatte und so sprach.
Von Yvonne werde ich wegen meiner Freizeitjacke gelobt. Ich muß eingestehen, daß sie vom Discounter stammt, was mir Yvonnes Tadel einbringt. Ich möge doch an die blutigen Kinderhände in Indien denken, wo das Zeug zusammengenäht werde. Die Kinderhände erwähnt sie immer, wenn sie sich etwas Teures gekauft hat, das vermutlich nicht am Ganges genäht wurde.
 
Danach habe ich heute die Brache erlebt. Gleich nach dem Schwimmen fuhren wir zu zweit zum Stadtrand, dorthin, wo die Straßen steiler werden und die Stadt in ihrer ganzen Länge ansteigt. Hier umgibt uns ein Gewerbegebiet; wir fahren durch ein Gittertor, das auf eine soziale Einrichtung hinweist.
Sie liegt in einem Industrie- und Brach-Gelände, wie man es sich wüster nicht vorstellen kann. Verrostete Bahngeleise, aus denen nach und nach ein Wanderweg entstehen soll, Gras und Gestrüpp, Baugruben, hinter schiefen Zäunen in einiger Entfernung Siedlungshäuser und Lagerhallen. Ein einzelner Arbeiter, der zu unbekannten Zielen herummarschiert, die Schaufel auf der Schulter – alles um mich wild und darum ungehemmt. Wir gehen auf das Café zu, das ist im oberen Teil einer Lagerhalle untergebracht, zu der eine steile Metallstiege hinaufführt. Beim Hinaufsteigen fühle ich mich wie auf einer Bohrinsel, und oben, am Ende der Stiege bin ich auf einer Himmelskanzel. Ich möchte die weißen, dahinsegelnden Wolken herunterziehen und um meine Schultern legen.
 
Im unteren Teil der Halle habe ich im Vorbeigehen pfeilschnell hin und her schießende Jugendliche auf Inlineskates und auf Skateboards gesehen, die halsbrecherische Sprünge über eine Rampe riskieren. Ein junger Aufsichtführender mit bartbedecktem Gesicht sitzt rauchend auf der Treppe vor der Halle.
Offensichtlich sehen wir hier eine Ausbildungs- und Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme. Oben bedienen junge Mädchen, oder sie kochen, wie wir durch eine offene Türe erkennen, unter der Supervision eines Professionellen und rühren in blitzenden Töpfen. Wir bekommen für vier Euro neunzig, eine Suppe, ein Hauptgericht, ein Dessert und ein Getränk.
Das ganze Gebäude ist eine zweistöckige Lagerhalle. Unser Speise-Raum ist hell, ja strahlend weiß, draußen taucht die Sonne alles in Glanz, und ich meine, es noch nie so komfortabel gehabt zu haben wie hier. Die Mädchen sind besonders freundlich und bemüht. Einzelne von ihnen hatten vorher sicher Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu finden.
 


Weitere Notizen an den folgenden Sonntagen
© Karl Otto Mühl 2011 - Redaktion: Frank Becker