Abende von Berlin - Die lange Nacht der Bücher

Ein Hauptstadtfeuilleton

von Jörg Aufenanger

Jörg Aufenanger - Foto © Frank Becker
Abende von Berlin II –
Die lange Nacht der Bücher
 
Es ist die wohl kleinstmögliche öffentliche Bibliothek und zudem vierundzwanzig Stunden lang geöffnet. Kaum bin ich an einem dieser Dezemberabende aus dem S-Bahnhof Grunewald getreten, sehe ich etwas, das ich endgültig verschwunden glaubte, steuere aber direkt darauf zu, nähere mich schließlich zögernden Schritts, stehe vor der vielleicht letzten gelben Telefonzelle Berlins, öffne vorsichtig ihre Tür und staune. Bücher über Bücher. In Regalen, und kein Telefon mehr. Ich nehme eins der Bücher, kann aber gerade noch den Titel entziffern, denn nur ein fahles Licht fällt von draußen in die Zelle hinein. Eine Taschenlampe müßte man dabei haben, habe ich aber nicht. Doch meine Augen gewöhnen sich langsam an das Halbdunkel. Gut hundert Bücher schätze ich haben Platz gefunden, und nun kann ich auch die Beschriftungen der Regale erkennen. Bestens nach Sachgebieten geordnet finden sich Biographien, Romane, Ratgeber, Reiseführer, Tagebücher, es ist dasselbe Sortiment wie man es in einer großen Bibliothek findet, doch entdecke ich einige Regale, die mit Widerstand, Ghetto, Judenverfolgung, Holocaust, Jüdisches Leben bezeichnet sind, und wer nicht weiß, der mag sich wundern. Aber ich weiß. Das Gleis 17 liegt in unmittelbarer Nähe. Hier befand sich der Güterbahnhof Grunewald und von diesem Gleis 17 wurden ab dem Oktober 1941 Tausende Juden in Güterzüge gepfercht und in die Vernichtungslager im Osten geschickt.
Und nur knappe hundert Meter von der Straßenbibliothek entfernt befindet sich eine Gedenkstätte, die an die Deportation der Berliner Juden erinnert.
 
Im Grunewald und im nahen Charlottenburg um den Kurfürstendamm herum lebten bis in die 1930er Jahre hinein viele jüdische Bürger Berlins, bis sie emigrierten oder eben deportiert wurden. Das Villenviertel des Grunewald war zuvor auch ein Zentrum jüdischen Geists gewesen, hier wohnten Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Samuel Fischer, Max Reinhardt und viele andere, bis auch diese Idylle arisiert wurde, „judenfrei“ gemacht wurde.
Ich verlasse die Straßenbibliothek wieder, wende mich zum Bahnhof zurück, und gehe einen Weg, den ich schon einige Male gegangen bin, eine leicht ansteigende Straße, Kopfsteinpflaster, sehe linkerhand Blumensträuße und Kränze liegen. Am Ende der Straße angekommen, finde ich selbst im Dunkel dieses Gleis 17 wieder, alle Meter eine Inschrift. Ich stelle mich unter eine der gelbfades Licht werfenden Laternen und kann sie entziffern. Ein Datum, eine Zahl, ein Ort. Der Tag der Deportation, die Anzahl der Menschen, die in die Wagons gepreßt worden, der Ort des Lagers, des Todes zumeist. Litzmannstadt, Treblinka, Theresienstadt, Auschwitz. Das erste Datum der 18. Oktober 1941, das letzte ein Tag im März 1945. Dazwischen so viele Tage, so viele Nächte, an denen ein Transport gen Osten abfuhr. Mit Tausenden Berliner Juden, die zuvor durch die Straßen, für alle sichtbar, zum Bahnhof getrieben worden waren. Wie zu so vielen deutschen Güterbahnhöfen, ob in Baden-Baden, Wuppertal, Köln, Stuttgart. Innehalten, die Schritte die zurück führen, die Straße hinunter, über das Kopfsteinpflaster sind nicht mehr die selben wie vor Minuten noch. Spät ist es, kein Mensch ist mehr in diesem Viertel, wo man das Haus abends nicht mehr verläßt, früh schlafen geht. Die kleine Pizzeria im Bahnhof ist schon geschlossen. Nur im „Floh“ ist noch Licht, die Stimmen einiger später Trinker sind zu hören. Ich gehe auf die Telefonzelle zu, ein schwaches Licht erleuchtet sie nun von innen. Wer hat es angeknipst? Ich öffne die Tür, sehe, an der Zellendecke ist eine Solarzelle montiert. Nun kann ich lesen. Ein Zettel sagt mir, in der Bücherbox am Gleis 17 können Sie ein Buch mitnehmen, ein Buch hineinstellen, oder nur lesen. Und ein Teil der Bücher beziehe sich auf die Geschichte und das Schicksal der Juden. Doch gerade als ich ein Buch über jüdischen Widerstand in die Hand genommen habe, es lesen will, geht das Licht wieder aus, niemand hat es ausgeknipst. Ich gehe, sachte ziehe ich die Tür hinter mir zu. Die lange Nacht beginnt für die Bücher.
 

Jörg Aufenanger                                                                                                                  19.12.2011