Solo für Martin Lindow

"Haus, Frauen, Sex" - Uraufführung im Theater im Rathaus, Essen

von Frank Becker

Foto © D. Dettmann
Der Totenfuchs
 
"Haus, Frauen, Sex."
Nach dem gleichnamigen Buch
von Margit Schreiner

Uraufführung
 
Regie: Martin Lindow, Bühnenbild: Beata Kornatowska  -  Andreas: Martin Lindow
 

Unheimlich still
 
„Haus, Frauen, Sex.“ Sagen wir es gleich: Der Titel des Stückes trügt. Bewußt. Zwar dreht es sich um ein Haus, um Frauen im Allgemeinen und zwei im Besonderen, und Sex kommt auch zur Sprache. Aber es geht nicht um das schlüpfrige Thema von B-Filmproduktionen. In Martin Lindows unter die Haut gehender Bearbeitung des gleichnamigen Buches von Margit Schreiner geht es um Existenzielles, um das ganze Leben, um alles. Ein Leben wird vorbei ziehen, mit all seinen Hoffnungen, Träumen, Enttäuschungen.
Der Fernsehschirm im dunklen Raum zeigt eine rasend Bahnfahrt, die ohne Halt durch Landschaften, Städte, Bahnhöfe jagt. Zugleich auf den Bühnenhintergrund, eine halb fertige Küche projiziert, ist sie auch Projektion des Alpdrückens eines unruhigen Schläfers. Der Mann (Martin Lindow) erwacht auf einer schäbigen Campingliege, schaltet eine müde Funzel an, quält sich hoch, putzt sich die Zähne, wischt mechanisch Herd und Spüle ab. Wortlos, leer, wie das Haus in dem er lebt. Allein. „In so einem großen Haus kann es unheimlich still sein.“
 
Das ist unser Song!
 
Martin Lindow, er führt auch Regie in dieser Uraufführung des Ein-Personen-Stücks nach dem Roman von Margit Schreiner, gibt mit beinahe beängstigend realem Schmerz diesen Mann, Andreas, der wie wir erfahren werden von seiner Frau Jo verlassen wurde, als sich eben sein/ihr Traum vom eigenen

Der Brief - Foto © D. Dettmann
Haus, einer bürgerlich gesicherten Zukunft zu erfüllen schien. Er schaltet das Radio ein, mit hartem Beat bricht Phil Collins´ „In the air tonight“ die Stille auf: „Das ist unser Song! Das ist 20 Jahre her…, das ist eine lange Zeit!“ Die Erinnerungen an das Vergangene treiben ihn um, das Nichtverstehen, die Frage nach dem Warum, die Wut über das Geschehene und die Angst vor dem was kommen mag. Es ging ihnen doch gut, sie haben einen Sohn, er hat gearbeitet und das Geld für ihr Leben nach Hause gebracht. Ja, gut, er war viel weg von zu Hause, hat wohl nur noch wenig Zeit mehr mit ihr verbracht. 46 Jahre ist er jetzt alt, entlassen von der Firma, für die er sich abgeschuftet hat, als das Haus eben fertig war – mit dem roten Steinboden im Flur, den Jo sich so sehr gewünscht hatte. Doch jetzt ist sie weg. Gegangen. Einen langen Brief hat sie ihm noch geschrieben, dessen bittere Essenz ist: „Lieber Andreas, ich kann nicht mehr mit Dir leben.“ Aus – das war es. Den Jungen hat sie mitgenommen.
 
Der Totenfuchs
 
Der Monolog, den Andreas hält, stets an Jo gerichtet, die sich jetzt als weiterer Schritt ihrer Selbstverwirklichung Johanna-Marie nennt, gewinnt an Dichte, Satz um Satz, Gedanke um Gedanke öffnet diesen Verzweifelten, der vor den Trümmern seines Lebens steht, weiter. Er kann einfach nicht begreifen, was da geschehen ist. Immer mehr verrät er über sich, gibt preis, was er ihr nie bekannt hat: seine auf Kindheitstraumata zurückgehenden starke Abneigung gegen seine eigene Mutter, die ihn mit der Verantwortung für die kleinen Schwestern allein gelassen hat, als er zehn war. Angst hatten sie vor dem Totenfuchs, der nachts ums Haus schleicht, erst den Vater holt, dann die Mutter und schließlich die hilflosen Kinder. Die Angst ist nie vergangen. Er hat nie aufgehört zu lauern, der Totenfuchs, auch jetzt umkreist er wieder das Haus, in dem Andreas gefangen ist.
Ganz tief unten, lange unterdrückt brodelte ein sich auf andere Frauen übertragende Haß. Jetzt läßt er ihn heraus. Jos Fehler, die er ihr aufrechnet, stehen stellvertretend für alle Frauen, denn wenn er Jo meint, sagt er „Ihr“, und wenn er von sich spricht, gleitet er mehr und mehr ins „Wir“.
 
Abrechnung – Bilanz
 
Es ist eine Bilanz, die er zieht, eine Abrechnung mit Jo, seiner Mutter, den Frauen. Ähnlich wie die Mutter ihn und die Geschwister in ihrem Kummer um den frühen Tod des Vaters alleingelassen hat, verhielt sich Jo im Zuge ihrer Selbstverwirklichung. Das Kind mit 1 ½ Jahren zur Tagesmutter, mit drei Jahren in den Kindergarten, um sich zu „verwirklichen“. Das nimmt er ihr übel. Selbstgerecht, doch zunächst ohne Selbstmitleid. Das bricht sich später Bahn. „Der Fehler liegt bei Dir, nicht bei mir. Du machst den Fehler, ich darf ihn aber nicht benennen.“ Und langsam entlarvt sich der vermeintlich Geduldige, Duldende als notorischer Pedant, der sich an Kleinigkeiten hochgezogen hat, bis das Faß überlief: „Du hast zuerst zugeschlagen!“
Dabei ist Jo einst ein „seltsam schönes Mädchen“ gewesen, um das er beneidet wurde. Doch die Leidenschaft ist lange schon abgekühlt, ihr Interesse an Sex marginal geworden. Mit Hohn überzieht er Jo wegen ihrer Asexualität. Ja, da war Yvonne schon anders. Ein Seitensprung. Aus Enttäuschung. Jetzt ins Leere des Raumes hinein kann er ihn grinsend bekennen.

Argumente - Foto © D. Dettmann
 
Ein Kabinettstück
 
Grimme-Preisträger Martin Lindow ist mit seiner ungemein dichten Darstellung, seiner grandiosen Palette von Gefühlen bis hin zu echten Tränen, bis ins winzigste Detail eines Blickes, eines Zögerns, einer Geste, eines beredten Schweigens ein Kabinettstück gelungen. Da ist kein Wort, keine Minute zuviel. Zutiefst bewegend kehrt er das Innerste einer Seele nach außen, lotet tiefenpsychologisch Abgründe der Angst aus.
„Fakir hab ich  werden wollen, als Kind.“ Das kindliche Schlüsselerlebnis eines Fakir-Auftritts bildet mit dem Totenfuchs das tief verwurzelte, zugleich mächtige und spröde Fundament einer von Ängsten beherrschten Existenz. Martin Lindow, der schon in „Fettes Schwein“ restlos überzeugt hat, führt das ergreifend, erschütternd vor Augen. Meisterlich. Chapeau!
Die Musenblätter vergeben dafür ihre Auszeichnung: den Musenkuß!
 
Information und Karten:
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Noch bis 3. Dezember 2011 und wieder  21. und 22. Februar / 7.bis 9. April 2012