Jazz

von Karl Otto Mühl

1970 - Foto: Archiv

JAZZ

Heute kam meine Tochter Anna von der Schule nach Hause, setzte ihren ledernen Rucksack auf meinen Schreibtisch, warf Ringe, Armbänder und Halskette auf den Rauchtisch und die Schuhe in verschiedene Zimmerecken, um mich dann voll anzublicken: ,,Du sollst mir sagen, was du von Jazz hältst. - Ja! Wir sollen einen Aufsatz schreiben, was unsere Eltern von Jazz halten."

Ich beruhigte Anna und versicherte ihr, daß ich sie nicht im Stich lassen werde. Sie möge mir nur einen Nachmittag Zeit geben, meine Gedanken zu sammeln.
Die Frage hatte mich nämlich wie ein Blitz getroffen. Ich fühlte, dass ich eigentlich schon immer auf sie gewartet hatte. Genauer gesagt, ich hatte sie auch gefürchtet.
Weil ich Jazz eigentlich nicht kenne. Ich habe ihn selten gehört und verstehe nichts davon. Wenn von Geschworenen verlangt wird, ein möglichst distanziertes Verhältnis zur Untat zu haben und sich von Informationen abzuschirmen, so konnte ich in diesem Falle eine ähnliche Distanz für mich in Anspruch nehmen. Aber alle Leute sprechen nun einmal von Jazz so als ob sie etwas davon verständen.
Ich kann da keine Ausnahme machen.

Erschwerend kommt bei mir hinzu, dass ich falsch singe. Das kommt wahrscheinlich von meiner Mutter, die besonders falsch sang, und zwar immer beim Bügeln; und mein Vater sang ebenfalls falsch, was aber in seinem Gesangverein nicht auffiel.
Auch in der Schule wurde mir meine Unmusikalität bestätigt. Trotzdem mußte ich manchmal in Zeugnis-Nähe einige Strophen allein singen, genau wie die Mitschüler.
Ich wartete dann kalt vor Entsetzen auf den Augenblick, wo ich vortreten und singen musste. Dies alles könnte ich gegenüber Anna als Beweis meines distanzierten Verhältnisses zur Musik und auch zum Jazz vorbringen.
Auch das Radio hat an meiner Unwissenheit nicht viel ändern können. Beim Sender-Suchen habe ich schon in jungen Jahren immer über Jazz hinweggedreht, um einprägsame, solide Musik wie ,,Theo, wir fahr´n nach Lodz" oder ,,Guantanamera" und dergleichen zu finden. Ich weiß aus kurzem Hineinhören beim Jazz nur, daß die Jungens ein ziemliches Tempo vorlegen. Das scheint mir eine durchgängige Eigenart beim Jazz zu sein.

Im Fernsehen machen diese Jazz-Musiker auf mich den Eindruck von lässigen Intellektuellen, um nicht zu sagen, von nachlässigen. Sie wirken zu spielerisch, also unernst. Mit so einer Haltung kann man keinen Zugang zu ernsteren und tieferen Gefühlsbereichen finden. Außerdem bewegt sich bei den Spielern ständig etwas, Kopf, Hand oder Fuß, oder alles zusammen, und das wirklich ohne Not.
Auch vermisse ich beim Jazz den Zug zur Größe, einen dröhnenden Akkord; habe nie eine große Geste dabei entdeckt. Es gibt da einfach keine Stellen wie bei „Freude schöner Götterfunken", Stellen also, bei denen unsere Gesichter einen edlen Ausdruck annehmen.
Als Zuhörer hat man zudem den Eindruck, daß man dem Jazz völlig gleichgültig ist. Von mir kann ich das behaupten. Durch die Klänge der Jazzmusik empfange ich weder Liebe noch Verwöhnung; sie schnattert ungerührt vor sich hin, und scheint mich nicht zu bemerken.

Die Jazzmusiker scheinen mich zu verachten. Wahrscheinlich haben ihre Vorgesetzten, wenn sie denn welche haben, den gleichen Eindruck. Diese Musiker tun so, als erlebten sie Freiheit, Harmonie und Heiterkeit. Damit setzen sie jungen Menschen unnötige Flausen in den Kopf, locken mit unerreichbaren oder verderblichen Zielen und machen sie ungerechterweise die so genannten Sekundärtugenden vergessen.
Die Jazzer tun so, als seien sie auf nichts in der Welt gerichtet, und schon gar nicht auf Vorwärtskommen, Lob und Anerkennung von maßgebenden Persönlichkeiten. Aber nur damit lassen sich Menschen zu nützlichen und disziplinierten Haltungen erziehen.
Übrigens: die Zuhörer-Verachtung erreicht ihren Höhepunkt bei den Jazz-Sängerinnen. Ich muß zugeben, dass ich die eine oder andere im Fernsehen angeschaut und angehört habe. Was sind diese singenden Frauen bloß für Frauen! Die sind ja überhaupt nicht in den Griff zu bekommen. Sie singen somnambul vor sich hin, und sehen aus wie Regentruden oder Hexen. Und nichts von Gefühl oder Schmelz in ihrem Gesang.

Zusammengefaßt müsste ich sagen: Jazz ist lieblos, läßt Größe und Ernst vermissen, ja, ist sogar kindisch, verspielt, flüchtig, rasch vergänglich. Ich müßte wirklich überlegen, wann und wo Jazz angebracht wäre.
Vielleicht nach einer Operation , aus der Narkose erwachend ...?
Gedämpftes Fiedeln, Trompeten, Taktschlagen; Traum von Lauten piepsender Vögel über einer Lichtung im Zauberwald; geschwätzig zwitschernd in Ohnmacht und kindlicher Freude, während sich neue, noch namenlose Gebilde und Organe der Schöpfung unter dem Regenbogen entfalten, so wie sich Blüten bewegen und öffnen.

Anna wird zu mir sagen: Hör auf mit deinem Quatsch. Damit gehst du mir schon genug auf den Geist. Sag was Vernünftiges oder laß es.

Es muß etwas Unauffälliges sein. Vielleicht so: „Jazz ist ein perfekter Ausdruck unserer Zeit.“


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007