Sophia Perennis

von Horst Wolf Müller
Sophia Perennis
 
Jedes Jahr
am Dies Academicus
treffe ich irgendwo in der Uni
Herrn Burghard den Doktoranden.
Da eilt er
ein ewiger Pilger der Wissenschaft
von einem Hörsaal zum anderen
Fakultätsgrenzen überwindend
wie Zäune aus Spinnweb.
Manchmal hat er eine Stunde frei
zwischen zwei Erleuchtungen.
Dann rastet er an einer Fensternische
kramt aus seiner Umhängetasche
eine Thermoskanne mit Tee
und eine halbe Fleischwurst, dazu
ein paar alte Semmeln
und stärkt sich.
Während der beschwerlichen Jause
berichtet er mir
daß er soeben
den Ursprung des Wortes Symbol
erfahren habe:
Freunde zerschlagen ein Glas
und jeder nimmt ein Stück mit.
Später finden sie sich wieder
und erkennen sich
an den zusammenpassenden Scherben.
Ein Sinnbild ist also ein Teil eines Ganzen
an dem das Ganze erkannt werden kann.
Wir leben in einer Welt von Bedeutungen.
Jedes Ding steht für irgendetwas Größeres.
Herr Burghard studiert hier seit fünfzehn Jahren
und wirkt an einem inneren Werke
in dem Mathematik und Sprache
ihre tiefen Beziehungen
enthüllen sollen.
Seine Ehe ist längst in die Brüche gegangen
seine Wohnung hat er lange wieder geräumt.
Jetzt wohnt er in einem verwilderten Zimmer
lebt von der Sozialversicherung
ißt in der Mensa.
Kennt dort genau
alle ewigen Studenten
und hält Kontakt zu ihnen
den tief Eingedrungenen
Er begreift sich als Peripathetiker
und erläutert mir
warum es unmöglich ist
mit dem Studium aufzuhören.
Wer Sophia verläßt
bricht den Bund mit ihr
und fällt Ignorantia wieder anheim
dies aber würde bedeuten
daß alles Studieren umsonst war
daraus folgt: nur Studium perennis
kann die wachsende Ignorantia aufhalten
denn der Mensch ist ein Wesen
das ständig dem Nichtwissen entgegentreibt.
Die Fensterbank ist voller Krümel.
Herr Burghard fegt sie sorgsam weg.
Nun muß er weiter
Lieben Pflanzen Musik
heißt der Vortrag
zu dem er eilt
wichtige Einblicke stehen bevor
sie könnten ihn weiterbringen.
Ich bin benommen
von der Unausschöpflichkeit der Welt
habe aber plötzlich Appetit
auf ein Stück
Fleischwurst
 
 
Horst Wolf Müller



© Horst Wolf Müller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011