Kirche als Kunst

Überlegungen zum Projekt „Décollage der Kirchenfenster“ von Barbara Held und Boris Meißner

von Pfarrer Siegfried Landau

Décollage Meißner - Foto © Frank Becker
Kunst und Kirche, Kunst in der Kirche
und die Kirche als Kunst

Überlegungen zum Projekt

„Décollage der Kirchenfenster“
von Barbara Held und Boris Meißner

Pauluskirche Remscheid-Hasten
Juli – Dezember 2011
 
Vernissage heute, 2. Juli 2011, 18.00 Uhr
 
Die neugotischen Fenster der 1853 eingeweihten und auf einem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel zurückgehenden Pauluskirche sind 1905 und 1913 durch die Glasmalwerkstätte Ferdinand Müller in Quedlinburg (2 Fenster) und durch den in Düsseldorf ansässigen sächsischen Hofglasmaler Carl Hertel (4 Fenster) geschaffen worden. Sie suchen Ausdruck in Farb- und Formensprache der Gotik, betreiben gleichsam anachronistische Vergangenheitsbelebung am Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, an dem sich die Malerei der Abstraktion zuzuwenden begann. Warum gestaltete man die Pauluskirche so konservativ?
Kirche und Kunst hatten sich auseinandergelebt, die Kunst hatte sich im Sog der Aufklärung von dogmatischer Bevormundung und liturgisch-theologischer Funktionalität befreit. Die Gestaltung liturgischer Räume verlangte aber nach einer Formensprache, die für alle Schichten der Bevölkerung nachvollziehbar war und fühlte sich selbstverständlich an theologisch-biblische Inhalte gebunden. Da die damalige Moderne in ihrer Emanzipationsbewegung um Abgrenzung und neue Wege bemüht war, griff man auf mittelalterliche Vorbilder zurück. Das Neue lebte stattdessen in Privathäusern, Galerien und Museen, nicht mehr in der Kirche. Diese kunsthistorische Entwicklung führte dazu, daß man neugotische, neoromanische oder auch nazarenische Ausdrucksformen hinsichtlich ihres künstlerischen Wertes eher gering einschätzte, da sie keinen eigenen neuen Beitrag zur Kunstgeschichte darstellten.
 
Vielleicht gibt es an diesen rückwärtig orientierten Kunstformen aber doch mehr zu entdecken als bisher angenommen. Es kann erst noch in den Blick geraten, warum sie sich entwickelten. Es ist zunächst danach zu fragen, was die Architekten, Künstler und Theologen mit diesen formalen Rückgriffen aussagen wollten. Die Zeit der Romantik ist die Zeit des Beginns der Prozesse, die bis in unsere Zeit hinein den Begriff von Neuzeit und Moderne prägen: Die Industrialisierung, Technisierung und Beschleunigung, das Zerbrechen alter Formen und Identitäten, die das Leben bisher getragen hatten. In dieser Zeit beginnenden radikalen Umbruchs schaute man nun zurück und zog eine Art Bilanz vergangener Stile und Ausdrucksformen. Daß diese Bilanz nicht frei von Sehnsucht ist und diese formuliert, ist das Besondere an ihr.


Foto © Frank Becker
Barbara Held und Boris Meißner setzen sich mit den neugotischen Fenstern, in denen auch Renaissance- und Jugendstilelemente zu finden sind, auseinander. Sie tun dies in einer neuen, bisher wahrscheinlich einzigartigen Weise.
Die Fenster wurden alle mit Pappe verklebt, sind lichtundurchlässig geworden. Nur wenige, einzelne Motive werden in Etappen von ca. 4 Wochen freigeschnitten. Es wird eigentlich nichts verändert, das Bestehende, Ursprüngliche wird stehen gelassen und gewürdigt, es wird nur reduziert. Diese Reduktion wird in einem sechsmonatigen Prozeß nach und nach sukzessive aufgehoben, indem weitere Motive freigeschnitten werden. Die Auswahl der freizustellenden Motive folgt einem durchdachten künstlerischen und theologischen Konzept. Der erste Freischnitt, der am 2./3.Juli vorgestellt wird, bildet dabei eine Art Exposition. Der Blick wird auf das Wesentliche, die Essenz nicht nur der Fenster sondern auch des Inhalts christlichen Glaubens reduziert: In der völlig dunklen Kirche wird nur der Korpus des gekreuzigten Christus zu sehen sein. Der Heiligenschein und der glorifizierende Bildrahmen sind unsichtbar geworden. Nur der leidende Mensch, der leidende Christus ist sichtbar. Durch diesen Korpus des leidenden Christus allein fällt Licht in die Kirche. Ausgehend von diesem freigestellten Motiv werden in den nächsten Etappen Verbindungen zu den anderen Fenstern hergestellt.
 
Dabei werden nicht nur die Fenster in ihrer Zweidimensionalität neu interpretiert, sondern der gesamte Kirchenraum wird verändert und zwar immer wieder neu. Der künstlerische Prozeß greift damit in das liturgische Geschehen ein, das die Gemeinde in diesem Raum lebt. In dem halbjährigen Prozeß wird die Gemeinde immer wieder mit anderen Blickrichtungen sitzen. Die herkömmlichen Bänke werden durch Stühle ersetzt, die jeweils neu ausgerichtet auf die freigeschnittenen Fenster gestellt werden. Der Altar wird zu den zu betrachtenden Fenstern gleichsam durch den Kirchenraum wandern.

Fenster von Ferdinand Müller, Foto © Siegfried Landau
Eine Herausforderung an die Gemeinde, die in ihrem Gottesdienst gleichsam zum Teil des Kunstwerks wird, indem sie den ihr vertrauten liturgischen Raum spirituell neu und anders, aber eigentlich nur durch Reduktion verändert, erlebt und belebt. Keine museale Veranstaltung also, sondern ein lebendiger Kunstprozeß. Eine Herausforderung zugleich an Predigende, Liturgen und die Gemeinde.
 
Die Gemeinde war an dieser Aktion beteiligt: Die Männergruppe hat mit den Künstlern gemeinsam die Verklebungen vorgenommen und die Bänke aus der Kirche geräumt. Der Frauenkreis hat sich mit der ersten Etappe der Décollage beschäftigt und den Eröffnungsgottesdienst am 3.7. um 10.30 Uhr als Familiengottesdienst gestaltet. Weitere Beteiligung von Gemeindekreisen und Gruppen ist geplant.
 
Termine zur Decollage (Vorstellung neuer freigeschnittener Elemente):
 
Samstag,       02.07.2011, 18 Uhr Vernissage zur Eröffnung
Sonntag,        03.07.2011, 10.30 Uhr im Familiengottesdienst/Gemeindefest
Sonntag,        31.07.2011, 10:30 Uhr im Gottesdienst
Sonntag,        04.09.2011, 10:30 Uhr im Gottesdienst
Sonntag,        25.09.2011, 10:30 Uhr im Gottesdienst
Sonntag,        23.10.2011, 10:30 Uhr im Gottesdienst
Sonntag,        20.11.2011, 10:30 Uhr im Gottesdienst
Heiligabend, 24.12.2011,  in allen Gottesdiensten
 

Adresse:
Pauluskirche Remscheid-Hasten, Büchelstr.47, 42855 Remscheid
 
Besichtigungstermine im Anschluß an alle Gottesdienste und Veranstaltungen und/oder nach Rücksprache mit Pfarrer Siegfried Landau, tel. 02191/9330211 oder Boris Meißner, Tel. 02191/73162
 
Redaktion: Frank Becker