Gedichte und Apfelwiesen

Ein Verlegerleben mit Ernesto Cardenal (2)

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Gedichte und Apfelwiesen
 
Ein Verlegerleben mit Ernesto Cardenal (2)
 
von Hermann Schulz
 
Als Verleger hatte ich die Literatur der sogenannten „Dritten Welt“ als spannende Herausforderung entdeckt. Wie sollte ich angemessen ein solches Programm vertreten und betreuen, ohne wenigstens ein unterentwickeltes Land wirklich zu kennen? Ich reiste drei Jahre später (1972) zehn Wochen durch Nicaragua, zu Fuß, auf Pferden, Schiffen, mit Bussen und Bahnen, von Nord nach Süd, von Ost nach West. Einer der Höhepunkte der Reise war ein Abend bei Pablo Antonio Cuadra, auch er ein Dichter, zu dem nicht nur Cardenal und sein Onkel und poetischer Mentor José Coronel Urtecho kamen, sondern fast die gesamte kulturelle Gesellschaft Nicaraguas: dichtende Ärzte und Techniker, die Musiker-Brüder Mejía Godoy, Professoren, Studenten und Angestellte. Fast alle waren später in die Revolution von 1979 involviert. Zum Abschluß dieser Reise fuhren Cardenal und einige aus seiner Gemeinschaft mit mir und meiner Begleitung auf dem Rio San Juan bis zum Atlantik; unvergeßlich die Tage und Nächte in der Geisterstadt Greytown (San Juan del Norte) und die sinnenverwirrende Atmosphäre auf dem tropischen Fluß im Regenwald. Am letzten Tag führten Anneliese Schwarzer und ich mit dem Dichter das Gespräch „Von der Heiligkeit der Revolution“, das als Buch in vielen Sprachen verbreitet wurde.
Wenige Monate nach meiner Abreise wurde Managua durch ein Erdbeben völlig zerstört, 15.000 Tote waren zu beklagen.
Über meine Reise schrieb ich das Buch „Ein Land wie Pulver und Honig“, zu dem der Romancier Sergio Ramírez, nach 1979 Vizepräsident der Revolutionsregierung, das Vorwort schrieb; er übertrug es auch ins Spanische und gab es gemeinsam mit Pablo Antonio Cuadra (PAC) heraus („Una tierra de polvora y miél“); es erreichte mehrere Auflagen.
 
Ich lud Cardenal zu einer Lesereise (1973) nach Deutschland ein. Seine Mutter Esmeralda erzählte mir später, ihr Sohn habe die Kleiderfrage für Deutschland mit ihr besprochen. „Hier bei uns gehst Du immer in Jeans, dem weißen Bauernhemd, Baskenmütze und Sandalen. Das machst Du in Deutschland genau so!“ Der Sohn gehorchte, und war damit gut beraten, denn auch seine bäuerlich-mönchische Erscheinung faszinierte die Medien. Drei Wochen reisten wir durch Deutschland, trafen Heinrich Böll in Köln, Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz in Berlin, schliefen in Kommunen und billigen Hotels. Im Kloster Maria Laach diskutierten wir mit einer handverlesenen Auswahl von Mönchen über Sozialismus und Christentum, gaben ein Interview nach dem anderen. Jede Lesung war ausverkauft, oft überfüllt – aber im Mittelpunkt standen die Anklagen des Dichters gegen die Somoza-Diktatur seines Landes. Sein „Nationallied für Nicaragua“, gerade erst ins Deutsche übersetzt, stand in großartigem Einklang mit seinem politischem Anliegen. Und er sammelte Gelder für die Opfer des Erdbebens. Bei der Lesung in der Universität Köln trafen wir auf die Theologin Dorothee Sölle, die später als Lehrerin in Nicaragua arbeitete, und den nicaraguanischen Studenten Enrique Schmidt. Mit ihm gründeten wir 1977 das „Informationsbüro Nicaragua“ in Wuppertal, bis heute das Zentrum für die Solidaritätsbewegung. Fast jede unserer Begegnungen hatte Folgen; es war, als hätte der Dichter und Priester Samen ausgestreut, der auf wundersame Weise, und auf sehr verschiedenen Äckern, aufging.
 
Dann kamen aufregende Zeiten.
Im Oktober 1978 sollte Cardenal zur Frankfurter Buchmesse kommen. Mit einem Telegramm hatte er mir die Ankunftszeit geschickt. Er war nicht in der Maschine. Ich fuhr drei, vier Mal zum Flughafen, wenn Flüge aus Lateinamerika erwartet wurden. Vergeblich. Ich rief Pablo Antonio Cuadra in Managua an. Der Dichter (er nannte keinen Namen) sei nicht im Land, vielleicht in Venezuela. Ich rief meinen Freund, den Soziologen Heinz-Rudolf Sonntag in Caracas an, ob er Informationen über den Dichter aus Nicaragua hätte. Auch er antwortete verklausuliert: „Hast Du die Nachrichten nicht gehört? Der Dichter ist hier in Sicherheit“. – Rätselhaft für mich.
Am nächsten Tag erfuhr ich aus unseren Medien, daß am 13. Oktober 1978 die Sandinistischen Befreiungsfront, der FSLN, sechs Polizei-und Militärstationen des Diktators überfallen hatten. Die Jugendlichen von Solentiname waren in San Carlos am Rio San Juan, der nächsten Stadt auf dem Festland, beteiligt. Es hatte Tote gegeben, die anderen waren durch den Dschungel nach Costa Rica geflohen. Cardenal hatte Tage vorher unter Vorlage der Einladung zur Buchmesse seinen Paß bekommen – und war nach Caracas gereist, um dort unterzutauchen. Man wußte, daß der Geheimdienst des Dikators ihn wegen des Überfalls auf San Carlos suchen würde. Cardenals Telegramm mit der Ankunftszeit war eine Finte, um den Geheimdienst irrezuführen.
 
Im Frühjahr 1979 kam Cardenal nach Deutschland, seine Auftritte gaben der Solidarität mit dem Aufstand in Nicaragua, der inzwischen ein Volksaufstand war, erheblichen Zulauf: Kirchengemeinden beider Konfessionen, Gewerkschaften, Autonome, Studenten und Studentengemeinden an vielen Universitäten stellten sich auf die Seite der Revolution. Die Anzahl der aktiven Solidaritätsgruppen wuchs auf über 200.
Am 18. Juli 1979 floh der Diktator aus dem Land, das seine Familie 45 Jahre lang ausgeplündert hatte. Seine Armee, die Guardia Nacional, die bisher von den USA ausgerüstet worden war, legte die Waffen nieder; viele Militärs gingen über die Grenze nach Honduras. Ernesto Cardenal wurde der erste Kulturminister in einer lateinamerikanischen Regierung. In seinen Augen und seiner Vorstellung von Kultur war Solentiname ein Modell für ganz Nicaragua geworden, mit einem Konzept breiter Beteiligung aller Bevölkerungsschichten.
Ein besonderes Ereignis war der erste Besuch des Dichter-Ministers in Deutschland. Da die Botschaft seines Landes noch nicht wieder besetzt war, bat er mich um Begleitung. Die deutsche Regierung stellte einen Dienstwagen mit Fahrer zur Verfügung, zwischen den Terminen berieten wir, wem man welches Projekt zur Finanzierung vorlegen könnte.
Damals hatte das kleine tapfere Nicaragua alle Sympathien auf seiner Seite; eine Menge Projekte wurden genehmigt. Ich lernte auf diese Weise Leute kennen, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte.
 
Für den Dichter war diese Reise ein einziger Stress. An freien Tagen lebte er in meiner Familie in Wuppertal, wir besuchten Bauernhöfe, Verwandte und Museen und er genoß es, die reifen Äpfel auf Bauernwiesen aufzulesen.
Wir sind uns mit jeder Begegnung näher gekommen und wurden Freunde. Die Freundschaft mit einem Dichter und Mystiker allerdings hat eine eigene Prägung; zumindest habe ich nie das Gefühl verloren, daß da immer eine gewissen Distanz blieb; vermutlich vermißte ich Gespräche um Alltagsdinge oder Familienangelegenheiten. Im Familienverbund fühlte er sich sichtlich wohl, erkannte aber manchmal tags darauf an anderem Ort meine Kinder nicht wieder. Als ich ihn nach der Anzahl seiner Geschwister fragte, mußte er nachdenken und nahm seine Finger zur Hilfe.
Unsere Beziehung war von großem Vertrauen geprägt; er hinterließ mir für dringliche Angelegenheiten unbedenklich unterschriebene Briefbogen seines Ministeriums, oder Bündel von ungezählten Geldern, die für Nicaragua und seine Projekte eingesammelt worden waren.
Für einen kleinen Verlag waren die Leistungen für die Nicaragua-Solidarität eine konkrete Belastung. Da war nicht nur die häufige Abwesenheit des Verlagsleiters; in einer Nacht z.B. machte Tomás Borge, der spätere Innenminister, über 2000 Fotokopien, um für seinen Besuch bei Gaddafi gerüstet zu sein. Dieser ungewöhnliche Aufwand fand 1980 eine unerwarteten Ausgleich: Cardenal wurde der „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“ zugesprochen. Die Entscheidung war nicht unumstritten; seine Rede in der Paulskirche war ein einziger Lobgesang auf die Revolution. Mein vorsichtiger Hinweis an Cardenal, in Deutschland hätte das Wort ‚Revolution‘ andere Assoziationen als in Lateinamerika (RAF, DDR, Gewalt), hatte er nicht beachtet. Aber einige seiner Bücher wurden Bestseller; die anschließende Lesereise ein Siegeszug.
 


© 2011 Hermann Schulz - Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Lesen sie morgen hier Teil 3 von Hermann Schulz´ Erinnerungen an Ernesto Cardenal
Redaktion: Frank Becker