Impressionen aus der Schwebe

von Dieter Jandt

Dieter Jandt - Foto © Frank Becker
Impressionen
aus der Schwebe

 
Teil 1:
 
Steht man da, erstaunt vor stählernem Urtier, das breitbeinig den Fluß in Klauen hält. Seit mehr als hundert Jahren. Damit dieses Wasser nicht ausufern kann, das einfach nicht schafft. Derweil dieses Urtier auf Augenhöhe ebenso diesen kurzen Wurm eisern im Griff hat, daß er nicht ausrastet.
 
Drinnen in der Schwebe steht einer mitten im Gang und kaut Kaugummi. Trotz Verzehrverbot. Steht da und tut nichts außer kauen. Schaut aus dem Fenster, kaut und glotzt, ist gar nicht richtig beisammen.
Glotzt auf alte Bauten aus Backstein so rot und sieht sie nicht. Und nicht die spinnwebenverhangenen Webstühle hinter verschmiertem Glas, alle noch in Betrieb und dennoch längst Vergangenheit. Tackern den Rhythmus eines Jahrhunderts und mehr.
Gleich nebenan ein Outlet von irgendwas, das längst hätte raus müssen.
Alle Menschen in der Schwebe sind so wie der Kauer. Sind flüchtig mit Gedanken beschäftigt, mit dem was war und auf sie zukommt. Werden nur ab und an aufgeschreckt, wenn der Fahrer die Namen der Haltestellen ins Mikrofon krächzt: Bruch! Wie Stimmbruch. Überhaupt der: Sitzt mit dem Rücken zum Geschehen, Ignorant der, als ginge ihm das Los der Fahrgäste am Arsch vorbei, und unter und hinter ihm all das.
 
Alter Markt: Ein flüchtiger Blick in Fahrtrichtung links auf Stundenhotels, auf die Rückseiten von Peep-Shows. Da trägt das Mauerwerk Falten im Putz wie ein nackter, runzliger Hintern, Kehrmedaille hastiger Lust.
In Wupperfeld die Wupper das Gefälle hinab und schäumt sich weiß auf zu lächerlichen Wellen. Strengt sich an, versucht Betrieb zu machen, wo sie doch nur knöcheltief übers Flußbett rinnt. Angeberwasser das. Täuscht Fluten vor.
Darüber aber Fernwärmerohre mit verdammt viel Dampf, der aus ihnen heraus wölkt. Und darüber die Hinterhöfe kleiner Klitschen. Immer sind da Mülltonnen, Weggestelltes, Erledigtes und Abgenutztes, das seine Schuldigkeit getan. Plätze des Verbrauchten.
Die Schwebebahn fährt die Hinterhöfe der Stadt ab, die Rücken der Häuser, hinter den Kulissen entlang. – und man wird doch nicht schlau darüber.
 
Eine Frau im offenen Fenster, die Ellbogen auf ein Kopfkissen gestützt. So beobachtet sie die vorüber ziehenden Fahrgäste und das Leben in der Schwebe, das keines ist, wo sie nur sitzen und stehen und leer schauen. Sie aber wartet darauf, daß endlich was passiert, daß sich die Wupper nur einmal zu irrsinnigen Wellenbergen aufstaut und all das mitreißt, aus der Schwebe. Wuchtig soll das sein, fortreißen das alles, aus den Augen, aus dem Sinn.
 
 
Teil 2:
 
Unten steht seit jeher Engels links vom Chinesen und rechts der Oper. Oder aus der anderen Fahrtrichtung gesehen: Wo beim Chinesen der Sozialismus links liegen gelassen wird, steht immer noch die Oper und Engels wacker in der Mitte. Oder wo?
Ein paar Meter weiter recken Enten ihre grünen Hälse übers Wasser. Daß hier nicht mal einer kommt und Brotkrumen hineinwirft, oder Wan Tan für die Pekingenten, Schwestern im Geiste, geiziges Pack das heutzutage. Früher war das anders, da hatte man noch ein Herz füreinander oder Gehör, also hört hört ihr Enten die Signale und werft euch in die Entenbrust. Eat the rich, oder: Dagobert, der Kampf geht weiter.
 
Inmitten der Straße giftgrüne Chemiewiesen. So gesund kann kein Rasen aussehen, im Leben nicht, und im richtigen schon gar nicht. Davor aber eine Schuhoase, wirbt mit einem Pappschild auf grünem Grund, als sei alles drumherum nur Wüste, in der die Menschen barfuß laufen.
Und tatsächlich sehen wir, wenn wir nur die Augen schließen, bald zu beiden Seiten Land, wie es trockener kaum sein kann. Die Wupper wird zum Nil, und Wüstenstreifen ziehen hart bis an die Hügelkämme heran. Der grobe Sand knirscht unter schweren Schritten und die Sonne brennt unbarmherzig herab, erhitzt den Stahl des Urtiers, daß es irgendwann verglüht.
Nun gehen Kamele am Ufer tief in die Knie und senken ihre Hälse ins Flußbett hinab, für einen letzten Schluck, bevor die Karawane weiter zieht mit lauter Tuchballen, Stoffen aus der Vergangenheit, als die Wupper noch rot war vor lauter Farbe und Arbeit, und keine Industriewüste.
 
Dann ein umgestürzter Einkaufswagen, dessen Metallgitter vom Wasser umspült wird. Daneben stochert ein Fischreiher mit dem Schnabel in seinen Federn herum. Was er da suchen mag? Und wozu der Einkaufswagen? Für Fisch im Angebot? Tatsächlich nutzt dieser komische Vogel das Hindernis, um so besser Wupperfisch abgreifen zu können, der wiederum reichlich Mühe hat, sich unter Wasser zu halten. So untief dieses Teil, Rinnsal blödes. Und was das alles heißen mag: Fauler Fischreiher frisst vorzugsweise frischen Fisch – solange der Vorrat reicht.
 
An der Hofaue sich Entspannende hinter großen Scheiben, die Augen krampfhaft fest verschlossen und unter dicken Decken die Fernbedienung auf den Bäuchen. Nach einer halben Stunde tut man so, als sei man gerade aufgewacht und geht gelöst von dannen. Placebo autogeno.
Am Döppersberg langes Ausschaukeln, und unten die Verkifften und Bespritzten, die ihre Hälse wie grüne Enten nach dem Dealer recken. Hört die Signale, wenn das Handy klingelt und der gute Mann erst mal absagt, weil er den Stoff noch strecken muß.
Am Islandufer Pinguine mit aufgesetzten Hälsen, eingewandert aus der Antarktis, Migrationshintergrundtiere, seltsame Zweibeiner, die nur um drei Ecken mit Gemüsehändlern in Verbindung zu bringen sind: Kriegen viele Kinder, kümmern sich kaum drum.
Gegenüber an der Arktis Eisbären, die sich auf den Schollen treiben lassen, etwa dort, wo sich die Wupper in den Nordpol ergießt. Stehen wie seltsame Fährleute auf dem Eis, geduckt und den Kopf hin- und herruckend, Hospitalismus in schneeweiß. Bis sie mit einem Male Lunte riechen, gierig ans Ufer setzen und an die Behausungen herantraben, sich mächtig auf die Beine stellen und faule Döner aus den Tonnen kramen. Die Nordsee am Wall hat bereits geschlossen.
 
 
Teil 3:
 
Im Hier und Jetzt herrscht triste Langeweile. Wo man nichts sieht außer Büroräumen. Fades Deckenlicht fällt auf Gestalten hinter Glas, die alle am Computer hocken, alle. Da verlieren sie ihren eigenen Horizont im Bildschirm, zwingend. Wo sie früher an Webstühlen saßen, haben sie sich heute längst weggeklickt.
Dann doch wieder rotbacksteinerne Fabrikrückwände und dahinter dunkel gähnende Leere. Man denkt an Ratten, verlassene Lager, verfilzte Decken und leer gelöffelte Dosen, ab und an ein Künstler im Pullunder, der sich an einer Staffel zu verwirklichen sucht. Sucht die passende Perspektive, die eigene.
 
Am Westende Bayer, futuristisch mit all den Rohren in grün und gelb, die hier- und dorthin führen, den kleinen, immer frisch lackierten Treppen, über die nie jemand geht. Und unten ein gewaltiger Sturzbach. Schießt unter dem Gemäuer hervor und macht richtig Betrieb, tritt die Wupper in den Arsch, auf daß sie endlich mal in die Gänge kommen möge, aber hinter der nächsten Biegung ist schon wieder Ende im Gelände, die Wupper schleicht sich.
Darüber stehen die Häuser den Hang hinauf beinahe übereinandergestapelt, so als hätte der Maler anfängerhaft die Perspektive versemmelt.
Sonnborn dann, verkohltes Dachgebälk auf Augenhöhe, hat jemand die Kippe nicht ausgemacht oder kein Ende finden können mit Weihnachten. Dummes Geschwätz, aber so ist das, wenn man in der Schwebe steht und oberflächlich in die Gegend glotzt. Die Schwebe ist kein Ort der Tiefe, alles weht vorbei, geht aus dem Sinn, bevor es eingehend betrachtet, denn schon schiebt sich das nächste Bild heran und das nächste - flüchtig allesamt.
 
Da fährt man den Menschen am Fenster vorbei und schaut zu, wie sie sich in den Sofas lümmeln, sich anschreien, wie blau die Bilder flimmern, wie man Zwiebeln schneidet, Vögel füttert oder sich gegenseitig vögelt. Da hat man vergessen, die Vorhänge zu ziehen, doch schon ist das aus den Augen, da zieht das Leben vorbei, in Schnappschüssen, winzigen Szenen, die keinen Anfang und kein Ende haben.
Dann doch endlich die Fluten nach tagelangem Monsunregen, und wir sehen, wie all das Getier in die oberen Etagen der stählernen Wipfel zieht. Amazonas das. Wie das Faultier bei aller Schwüle in Zeitlupenbewegungen an einem Bein dieses Urtiers emporklettert, an Pfeiler 37. Salamander, die sich mißtrauisch in die Winkel der Verstrebungen ducken, unsicher, welche Farbe anzulegen sei, und darüber Affen, die in den Oberleitungen kreischen. Weil die Flut nicht aufhört zu steigen.
 
Dann, beinahe schon unter Wasser schwebend, Endstation, wo kreischend dieser stählerne Wurm umgedreht wird und dann all das noch einmal abläuft und noch einmal und immer wieder - ist doch ganz schön was los.
 
 
 
© Dieter Jandt – Erstveröffentlichung in dem Musenblättern 2011
Redaktion: Frank Becker