Unverklärte Erinnerungen

Ingried Wohllaib - "Gasthauskind"

von Robert Sernatini
"Eezabell, Kibbala nadra!"

"Der Sinn ist Respekt. Das Leben bewundern."
(S.115)

Dieses Buch ist - so sagt uns der Umschlag - ein Roman. Dieses Buch ist, so korrigiert es der Klappentext, das Protokoll einer gestohlenen Kindheit in der schwäbischen Provinz. Die wahre Tiefe dieser in scharf ausgeleuchteten Streiflichtern aufgezeichneten Erinnerungen läßt sich angesichts der fröhlich fliegenden Zöpfe auf dem Umschlagbild nicht ahnen. Umso dramatischer gestaltet sich bei der Lektüre das Verstehen, das den Leser Partei nehmen läßt, ihn zum Mit-Leidenden macht. 

Wer zu Büchern mit Kindheitserinnerungen greift, zumal über die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder in den 50er und 60er Jahren, ist es eigentlich gewöhnt, häufig in nachträglicher Verklärtheit über glückliche Zeiten zu lesen, in denen der allgegenwärtige Mangel zur Tugend gemacht wird, wo
zwischen den Zeilen das "Vorwärts!" und "Aufwärts!" zu hören ist und in heiterem Trotz humorvolle, augenzwinkernde Rückbesinnung zu finden ist. Nicht so bei Ingried Wohllaib. In ihren Erinnerungen ist nichts heiter, geschweige denn komisch. Da ist die zerstörte Ehe der Eltern, der lieblos schweigende Vater, der bei einem Unfall einen Arm verliert, die Mutter, die von beiden Töchtern mehr und mehr an Leistung in der Gastwirtschaft verlangt, der Stammtisch mit seinen nutzlosen Trunkenbolden, vor allem ist da das schmerzliche Fehlen einer unbesorgten Kindheit mit liebevoller Geborgenheit. Ein Kind muß spielen, träumen, kuscheln. Unsere Protagonistin darf das nicht. Ingried Wohllaib verschweigt und verklärt nichts.

Oder doch: nämlich das eigene Erstarken an den Widrigkeiten, denen sie durch die Ausbeutung im Familienbetrieb und durch den Ekel über besoffene, kotzende, lallende und hinter Büschen kopulierende Stammgäste des im pietistischen Umfeld schlecht beleumundeten Lokals schon als kleines Kind ausgesetzt war. Sie zeigt sich stark im Blick zurück, ohne jedoch zu verbergen, daß sie aus ihrer Kindheit Liebes-Defizite mitgeschleppt hat, an denen sie deutlich bis heute leidet. Gelernt hat sie dennoch viel in dieser harten Schule. Ihre Gedächtnis-Aufzeichnungen, für die sie den Namen Isabell angenommen hat, beschreiben eine grade mal 50 Jahre zurückliegende Zeit - für die Geschichte ein Wimpernschlag, für junge Leser Schnee von gestern, für einen Zeitzeugen ein Leben.

Die nur grob geordneten, gut verdaulichen literarischen Happen, in denen Ingried Wohllaib ihr Buch serviert, die Portraits, die sie von den Menschen ihrer Umgebung zeichnet, sind von sprachlicher Dichte und Reichtum, von riechbarem, fühlbarem, hörbarem Zeit- und durch die einfließende Mundart Lokalkolorit. Präzise kindliche Beobachtungen werden zu gültigen Aussagen über eine Epoche. Ich jedenfalls konnte mich den Bildern nicht entziehen und bin den Geschmack der 50er bis 70er Jahre in der deutschen Provinz während der gesamten fesselnden Lektüre nicht losgeworden. Und er schmeckt noch intensiv nach.
Man muß Ingried Wohllaib für dieses Buch danken.

 
Beispielbild

Ingried Wohllaib
Gasthauskind

Roman

© 2010 Piper Verlag

206 Seiten, geb. m. Schutzumschlag, Lesebändchen

Weitere Informationen unter:
www.piper.de