Zugzwang

Gerd Silberbauer brilliert in Stefan Zweigs „Schachnovelle“

von Frank Becker

© S. Fischer Verlag
Zugzwang
oder
Die letzte Partie
 
Gerd Silberbauer brilliert in Stefan Zweigs „Schachnovelle“
(Bühnenfassung von Helmut Peschina)
 
Eine Inszenierung des Euro-Studio Landgraf
 
Regie: Frank Matthus – Bühnenbild: Karl Spannhak – Kostüme: Helga Leue – Videodesign: Zoltan Labas – Regieassistenz: Claudia Buser – Produktion: Ilse Nickel, Juliana Kraus – Licht/Technik: Bertram Kohlhofer
Besetzung: Dr. Bertram: Gerd Silberbauer – Dr. Hartl: Jörg Walter – Mathilde Hartl: Judith Steinhäuser – Hofrat Lorenz: Walter Holub – Mirko Czentovic: Daniel Pietzuch – McConnor: Andreas Klein – 1. Herr/Gestapo-Vernehmer: Hans Machowiak – 2. Herr/SA-Mann: Harald P. Wieczorek – Steward/Arzt: Hermann Höcker
 
Eine Schiffspassage
 
1942. Während einer Überfahrt von New York nach Buenos Aires trifft sich auf einem Passagier-Schiff eine bunt gemischte Gesellschaft. In Europa ist Krieg, man wähnt sich weit ab vom Geschehen. Exilierte Wiener, der schottisch-amerikanische Nabob McConnor (Andreas Klein), einige Herren der Gesellschaft ohne erkennbaren Hintergrund treffen zwanglos aufeinander, wie das bei Geschäfts- und Vergnügungsreisen eben so ist. Man plaudert. Als die Herren erkennen, daß unter den Reisenden an Bord auch der Schachweltmeister Mirko Czentovic ist, ein berühmtes Naturtalent, erwacht der allgemeine Wunsch, den schroff reservierten Weltmeister zu einer Partie zu bewegen. Gegen ein Honorar von astronomischen 250,- US $ pro Partie ist Czentovic (Daniel Pietzuch) bereit, schlägt McConnor und die gemeinsam spielende Gruppe in wenigen Zügen und ist auch bei der Revanche ebenso schnell fast am Ziel, als ein nervöser Fremder mit blitzschnellen Kombinationen eingreift und das eigentlich schon verlorene Spiel zu einem Remis führt.
 
Der Hintergrund
 
Dr. Bertram (Gerd Silberbauer), der diese Partie überlegen gedreht und behauptet hat, seit seiner Jugend keine Schachfigur mehr berührt zu haben, öffnet sich in einem nächtlichen Gespräch dem Mitreisenden Dr. Hartl (Jörg Walter). Als österreichischer Jurist wegen seiner Tätigkeit für die Habsburger von den Nazis verfolgt und von der Gestapo in Haft genommen, war er monatelang in einem Hotelzimmer dem Grauen völliger intellektueller Isolation ausgesetzt. Kein Papier, kein Buch, kein Bleistift, keine Uhr. Ein permanent tropfender Wasserhahn, ein schweigender SA-Mann als Wächter. Dem Druck beinahe erlegen, kann er während eines Verhörs aus der Manteltasche des Gestapo-Mannes ein Buch stehlen: 150 Schach-Meisterpartien. Sein Überleben hängt an diesem Buch, das er wieder und wieder liest, dessen Partien und Konstellationen er auswendig lernt und sie erst auf der karierten Bettdecke, dann, als das Buch entdeckt und ihm weggenommen wird im Kopf, wieder und wieder im Kopf.
 
Gerd Silberbauer spielt im statischen, sich nur durch Lichtregie verändernden Bühnenbild die

Gerd Silberbauer - Foto © Euro-Studio Landgraf
Gegenwarts- und die Erinnerungsebene in rasch wechselnden Bildern in nahtlosem Übergang, atemberaubend, in rasenden Monologen, läßt den Wahnsinn und die Hysterie aufblitzen, an deren Grenze ihn die Isolation bringt, phantasiert, tobt, schreit, lacht. Ein Kammerspiel, das dem brillanten Schauspieler alles abverlangt und dem er in jeder auch noch so kleinen Phase der Aufführung seinen grandiosen Stempel aufdrückt.
 
Von der Macht gegen die Machtlosigkeit
 
Bertram behauptet sich, hält durch, verrät sogar im Delirium des Gehirnfiebers nichts, bis er zusammenbricht und in eine Klinik eingeliefert wird. Von dort wird er unter der Maßgabe freigelassen, sich unvermittelt außer Landes zu begeben. Auf der Reise ins südamerikanische Exil kommt es zu der schicksalhaften Begegnung auf dem Schiff.
So muß sich Stefan Zweig beim Verfassen der autobiographisch gefärbten Novelle - Zweig selbst hatte während des 3. Reichs nach dem englischen das brasilianische Exil gewählt - seinen Dr. Bertram vorgestellt haben. Hatte schon die 1960er Verfilmung mit Curd Jürgens in der Titelrolle cineastisch Maßstäbe gesetzt, muß der gleiche Rang hier Gerd Silberbauer bescheinigt werden. Er beherrscht die Bühne, spielt ganz im Sinne der Inszenierung alle anderen in den Hintergrund, allein Daniel Pietzuch als Czentovic und Harald P. Wieczorek (als SA-Scherge „Mondgesicht“ vom Typ her allerdings falsch besetzt) können sich eher schweigend in seiner Nähe behaupten. Im Kampf gegen die Macht der anderen und die eigene Machtlosigkeit setzt Silberbauer Elementares des Menschseins frei. Was stört ist die micht ins Zeitkolorit passende Musik aus den 1960er Jahren, die im Hintergrund läuft (Paul Desmond, Joao Gilberto).
 
Schlußstrich
 
Bertram – er soll auf Anraten seiner Ärzte nie mehr Schach spielen - läßt sich für den folgenden Tag zu einer weiteren Partie gegen Czentovich überreden: „Diese Partie soll nichts als ein Schlussstrich sein.“ Fieberhaft erwartet die Bordgemeinschaft das Spiel, das Bertram souverän für sich entscheidet. Czentovic verlangt Revanche, die Bertram wider jeden Rat seiner offenbaren „Schach-Sucht“ folgend annimmt. Diesmal setzt der Weltmeister auf Zermürbung. Er hat gemerkt, daß Bertram nur blitzschnell aus dem Kopf bekannte Züge nachspielen kann. Es wird zu Nervenkrieg von kaum zu überbietender Dramatik, in dem der Theatersaal förmlich an Bertram/Silberbauer klebte. In einer ungeheuren Kraftleistung wird Silberbauer zum bebenden Nervenbündel, zum Getriebenen, der unter wörtlich zu nehmen „Zugzwang“ steht. Er kippt die Partie, als er spürt, daß der Wahnsinn wieder an ihn herantritt.


Die letzte Partie: Gerd Silberbauer (lks.), Daniel Pietzuch (re.) - Foto © Euro-Studio Landgraf

Das Schlußbild zeigt ihn allein an der Reling: ein gebrochener, verzweifelter Mann, der zwar frei ist, doch durch die geistige Folter unwiderruflich gebrochen. Silberbauer erschüttert sein Publikum, das dem sichtlich bewegten Mimen minutenlange stehende Ovationen gibt. Ein Theatererlebnis von höchstem Rang.
 
 Weitere Informationen unter: www.landgraf.de
 Film-Trailer unter: www.youtube.com/